Produktiver durch weniger Arbeit - Teil 2
Höhere geplante Auslastung lässt die Wartezeit der Auftraggeber explodieren
Zu hohe Auslastung macht dir Stress. Und Stress führt zu allen möglichen negativen Effekten: er demotiviert, er begünstigt Konflikte, er lässt dich Fehler machen. Unzuverlässigkeit, Qualitätsmängel und Ärger mit Kollegen, Vorgesetzten, Kunden haben ihre Ursache im Stress, unter dem du stehst.
Wenn du allerdings nur auf deine Auslastung schaust, erkennst du gar nicht den Stress. Deine Auslastung ist am Ende des Tages immer nahe 100% — und das ist doch auch gut so. Dann hast du nicht herumgesessen und Däumchen gedreht. Du hast dein Gehalt verdient. Was gibt es daran auszusetzen. 8 Stunden pro Tag zu arbeiten, ist doch nichts Besonderes, oder?
Das Problem liegt nicht in der Auslastung, sondern in der Differenz zwischen Auslastung und geplanter Auslastung! Du wirst auch schon beobachtet haben, dass dazwischen Welten liegen.
Aber was ist denn so schlimm, wenn du länger brauchst, als gedacht? Im obigen Bild scheint das noch kein Drama zu sein. Die Planung lässt genügend Lücken, so dass der reale Aufwand einfach nur den Tag füllt.
Doch was, wenn deine Planung schon so aussieht?
Dann ist das Desaster vorprogrammiert!
Leider erwarten die meisten Arbeitgeber jedoch diese Art der Planung von dir und deinem Team. Es wird nicht darauf geschaut, ob du am gestrigen Tag 8 Stunden stramm gearbeitet hast, sondern ob du schon für morgen und übermorgen einen straffen, vollen Plan hast. Arbeitgeber wollen nicht Gefahr laufen, dass ihre Mitarbeiter in Zukunft Däumchen drehen. Sie wollen eine Prognose für die Auslastung, die zeigt, dass die Kapazität auch möglichst voll genutzt wird.
Aber worin besteht denn das Desaster? In unerledigten Aufgaben, die sich um dich herum türmen. Wenn du schon laut Plan ausgelastet bist, dann haben neue Aufgaben keinen Platz in deinem Plan; sie müssen warten. Außerdem sorgen Verzögerungen in der Abarbeitung geplanter Aufgaben für weitere Wartezeiten.
Diese Wartezeiten machen dir Stress. Denn sie erzeugen Frustration bei denjenigen, die dir Aufgaben übertragen haben. Sie wollen Ergebnisse sehen, doch du kannst ihnen nicht sagen, wann du die liefern wirst.
Je höher deine geplante Auslastung, desto länger die Warteschlange der unerledigten Aufgaben.
Hier siehst du, wie solch eine Warteschlange entsteht:
Während du an einer Aufgabe arbeitest (1), kommen schon zwei weitere herein (2, 3). Sie stehen damit in einer Warteschlange “vor dir”, bis du wieder freie Kapazität hast. Nachdem du 1 abgeschlossen hast, beginnst du mit 2. Doch 3 wartet immer noch in der Warteschlange.
Wenn du beginnst, an einer Aufgabe zu arbeiten, nimmst du sie zwar aus der Warteschlange “vor dir”, doch damit hört das Warten nicht auf. Die Aufgabe wandert nur in eine Warteschlange “hinter dir”, wo sie nun darauf wartet, dass du sie endlich beendest.
Zeitpunkt A: Aufgabe 1 kommt an.
Zeitpunkt B: Du arbeitest an Aufgabe 1, aber sie wartet noch auf Fertigstellung. Währenddessen sind schon 2 und 3 angekommen und warten darauf, dass du überhaupt mit ihnen beginnst.
Zeitpunkt C: Aufgabe 1 hast du abgeschlossen und das Ergebnis weitergeschickt. Aufgabe 2 hast du nun angefangen. Aufgabe 3 wartet immer noch darauf, dass du mit ihr loslegst.
Das ist der einfachste Fall: Du arbeitest Aufgaben der Reihe nach ab, so wie sie eintreffen. Eine nächste Aufgabe beginnst du erst, wenn die vorherige abgeschlossen ist.
Komplizierter wird es, wenn du mehrere Aufgaben anfängst, ohne sie abzuschließen. Dann betreibst du Multitasking — und alles wird langsamer. Das bedeutet, die Wartezeiten für alle Aufgaben verlängern sich.
Auslastung erzeugt Warteschlangen
Warteschlangen sind die Pest. Ich glaube, da stimmst du mir zu. Du hast auch keine Lust, an der Supermarktkasse oder bei der Gepäckaufgabe am Flughafen zu warten. Wenn die Schlange dort eine bestimmte Länge hat, weißt du, dass das Personal überlastet ist: Der Bedarf übersteigt die Kapazität.
Das ist deine praktische Erfahrung. Zu der gibt es allerdings auch ein theoretisches Pendant: die Warteschlangentheorie. Die befasst sich mathematisch mit solchen Problemen. Vor allem ist das natürlich bei der Produktion in einer Fabrik interessant, doch die Warteschlangentheorie ist auch relevant für den Flughafenschalter oder eben deine Arbeit im Büro.
Immer geht es um dasselbe: das Verhältnis zwischen Kapazität und Bedarf. Knifflig wird es dabei nämlich, wenn es darin Variabilität gibt. Für deine Arbeit offensichtlich sind:
Es variiert die Zeit, die du zur Erledigung von Aufgaben brauchst. Manche gehen ganz schnell, andere dauern sehr lange.
Es variiert die Zeit zwischen der Ankunft von Aufgaben. Manchmal kommen neue Aufgaben im Minutentakt, dann wieder vergehen Stunden bis zu einer neuen Aufgabe.
Es variiert der Unterschied zwischen deiner Schätzung und der Realität, wie lange du brauchst, um Aufgaben zu erledigen. Manchmal liegt beides dicht beieinander — du schätzt, du brauchst 30 Minuten und es werden 35 Minuten —, manchmal gibt es aber auch sehr große Differenzen — du schätzt, du brauchst 10 Minuten, aber am Ende sind es 2 Stunden.
Wahnsinn, oder? Im Grunde ist es kein Wunder, dass du dich ständig im Stress fühlst. Alles ist so ungewiss. Die Variabilität ist hoch, so dass du dir nur schwer einen stabilen Plan machen kannst.
Was nun?
Die Warteschlangentheorie bietet eine Formel, mit der man ausrechnen kann, wie lang deine Warteschlange wohl sein wird, wenn du dich zu einem gewissen Grad auslastest. Genauer: Wenn du mit einer gewissen Auslastung planst.
Beispiel Supermarktkasse: Es dauert vielleicht zwischen 30 Sekunden und 4 Minuten, einen Kunden abzukassieren.
Vormittag, Zeitraum 10:00 bis 11:00: In diesem Zeitraum kommen nur 15 Kunden in den Supermarkt. Die Kasse ist irgendwo zwischen 7,5 Minuten und 60 Minuten ausgelastet. Sicher sind nicht alle Kunden in 30 Sekunden abgefertigt, sicher braucht es auch nicht für alle 4 Minuten. Im Durchschnitt sind es vielleicht 1,5 Minuten. D.h. die erwartete Auslastung ist 22,5 Minuten (37,5%).
Abend, Zeitraum 17:00 bis 18:00: Nach Feierabend kommen viele Kunden (Stoßzeit); jetzt sind es 35 in einer Stunde. Bei gleicher durchschnittliche Dauer für das Abkassieren würde das nun 52,5 Minuten dauern; die Auslastung wäre 87,5% an der Kasse.
Was meinst du, wie lang sind die zu erwartenden Schlangen am Vormittag bzw. am Abend?
Ich habe ChatGPT diese Frage gestellt. Du kannst den Chat hier sehen. Die mathematischen Details sollen uns hier nicht interessieren. Wichtig ist die Antwort:
“Basierend auf dem M/M/1 Warteschlangenmodell und den gegebenen Informationen, beträgt die durchschnittliche Länge der Warteschlange etwa 6,1 Kunden während der Stoßzeit.”
Am Abend sind 6 Kunden in der Schlange an der Kasse zu erwarten.
Dieselbe Frage für den Vormittag gestellt liefert die Antwort 0,23 Kunden, also im Grunde keine Schlange.
Wann würdest du einkaufen gehen?
Die Reaktion des Supermarkts ist natürlich, die Zahl der geöffneten Kassen in der Stoßzeit zu erhöhen. Am Vormittag wird nur 1 Kasse besetzt, am Abend vielleicht 2. Bei doppelter Kapazität und unverändertem Bedarf würde die Auslastung so stark sinken, dass wieder im Grunde keine Schlange entstehen würde.
Das ist auch deine Erfahrung im Supermarkt, denke ich.
Und die lässt sich auf deine Arbeit im Office übertragen. Die Aufgabe der Supermarktkasse ist simpel und immer gleich: Abkassieren. Deine Aufgaben sind vielfältiger und komplizierter. Dennoch gilt auch für sie die Warteschlangentheorie. Durch die Brille der Mathematik kannst du auch auf deine Produktivität im Office schauen — und erklären, warum die am Boden liegt.
Diese Kurve habe ich von ChatGPT für verschiedene Auslastungen zeichnen lassen: sie reichen von 20% (0,2) bis 95% (0,95). Siehst du, wie die Länge der Warteschlange zunimmt?
Die Länge der Warteschlange wächst exponenziell bei Zunahme der Auslastung.
Das ist der Wahnsinn! Das ist der Ursprung des Stress-Übels.
Eine Warteschlange von 1 oder 2 unerledigten Aufgaben tolerieren die meisten Auftraggeber:
Auftraggeber: “Wann kannst du mit meiner Aufgabe beginnen?”
Du: “Ich arbeite an einer Sache und dann steht noch eine weitere auf meiner Liste. Danach kommst du dran.”
Auftraggeber: “Das ist ok. Solange kann ich warten.”
Ich vernachlässige hier bewusst die Dauer der jeweiligen Aufgaben. Wenn die in Arbeit befindliche noch 3 Wochen dauern sollte und der neue Auftraggeber eine hat, die nur maximal eine Stunden dauern sollte, wäre seine Antwort wahrscheinlich eine andere. Doch solche Feinheiten machen das Bild nur noch schlimmer. Wenn wir auch noch Priorisierung von Aufgaben berücksichtigen wollten, würde die Warteschlangenentwicklung viel undurchsichtiger. Du würdest nicht mehr nach dem Prinzip first come, first serve arbeiten, also streng der Reihe nach, d.h. die Wartezeit für manche früheren Aufgaben würde sich sogar durch spätere verlängern!
Nein, lass es uns einfach halten. Schon dann ist die Entwicklung der Warteschlange “vor dir” erschreckend.
Solange deine Auslastung maximal um die 60-66% beträgt, ist die Welt noch in Ordnung, würde ich sagen. Die Warteschlange hat eine durchschnittliche Länge von maximal 2 Aufgaben. Das ist überschaubar.
Bis 85% Auslastung steigt die Länge der Warteschlange auf mehr als das Doppelte. Mit 6 wartenden Aufgaben ist zu rechnen.
Jenseits dessen beginnt “die Todeszone”. Die Warteschlange wächst bis 95% Auslastung auf 17,5 Aufgaben.
Meine Empfehlung ist daher: Plane maximal mit einer Auslastung von 66%. Sei zuverlässig, lass deine Auftraggeber nicht warten, erspare dir Stress, der ja nur zu schlechter Qualität und Konflikten und weiteren Verzögerungen führen kann.
Aus Sicht deines Arbeitgebers bedeutet das allerdings: Dein Gehalt musst du mit 66% deiner Kapazität erwirtschaften. Rein rechnerisch. Denn das ist ja eben nur deine Planung. Am Ende des Tages hast du selbstverständlich wieder nahezu 100% deiner Kapazität gebraucht.
Wie das? Das geschieht unvermeidbar durch die Variabilität in den Aufgaben. Weil es die gibt, kannst du eben nur 66% verplanen.
Das ist wie beim Schießen auf ein bewegtes Ziel: Du zielst nicht auf das Ziel, sondern ein Stück vor das Ziel in Bewegungsrichtung. Wenn du dann abdrückst, triffst du, weil sich das Ziel in der Zeit bis dahin auf den Zielpunkt bewegt hat.
Die 33%, die du nicht einplanst, sind ein Puffer. Der ist nötig wegen der Variabilität im Aufgabenaufkommen. Wo viel Variabilität ist, braucht es einen großen Puffer für verlässliche Abarbeitung; bei wenig Variabilität kann der Puffer verkleinert werden. Wie steht es bei dir mit der Variabilität? Ist die klein, arbeitest du am Fließband? Das glaube ich nicht.
Ein weiterer Grund für geringe Auslastungsplanung ist Reaktionsfähigkeit. Reaktionsfähig bist du, wenn die Warteschlange kurz ist. Dann dauert es nicht lange, bis du eine neue Aufgabe auch anfangen kannst. Ein Extrembeispiel dafür ist die Feuerwehr: Hier ist die Reaktionsfähigkeit so entscheidend — sie muss immer sofort ausrücken können, es darf also keine Warteschlange geben —, dass die Feuerwehr mit sehr hoher Kapazität im Verhältnis zum Bedarf geplant wird. Ihre Auslastung ist vielleicht nur 10% oder weniger.
Ich weiß, dass du es schwer haben wirst, deinem Vorgesetzten eine geplante Auslastung von nur 66% zu erklären. Dein Arbeitgeber will dich im Vorhinein möglichst stark verplant sehen. Wie die Mathematik zeigt, ist das jedoch ein Rezept für ein Drama. Dein Arbeitsalltag ist der Beweis dafür.
Wer “trust the science” denkt, der muss konsequent sein und auch der Warteschlangentheorie trauen.
Die Mathematik zeigt klipp und klar, was passiert, wenn du die geplante Auslastung in die Höhe schraubst: die Warteschlangenlänge explodiert mit allen negativen Konsequenzen für das Miteinander im Unternehmen.
Natürlich ist die Warteschlangenformel auch nur ein Modell. Darin stecken Annahmen, die sich vielleicht nicht mit der Realität in deinem Unternehmen decken. Dennoch ist sie ein Anhaltspunkt, der nicht so weit von deiner Realität entfernt ist. Dass es bei dir weniger schlimm ist, als von dem Modell prognostiziert, würde ich nicht annehmen. Wenn, dann ist das Modell sogar zu optimistisch und die Lage bei dir ist dramatischer.
Es genauer zu berechnen für deinen Office-Job, ist allerdings kaum möglich. Dafür müssten Messungen über die Aufgabeneingänge, Bearbeitungsdauern usw. gemacht werden, die niemand bezahlen wollen würde. Außerdem verschieben sich die Verhältnisse andauernd. Und es tragen ja auch noch andere Faktoren dazu bei, dass überhaupt bei den gegeben Aufgaben die Auslastung so hoch ist; um nur einige zu nennen: Priorisierung, Multitasking, Toolnutzung, Kompetenz…
Deshalb: Schon bei viel einfacheren angenommenen Verhältnissen ist das Drama groß, wenn du deine Auslastung über die 66%-Marke hebst. Und jenseits 85% beginnt das Chaos.
Wenn du der Wettervorhersage Vertrauen schenkst, die auf einem Modell basiert, dann kannst du auch dem Modell hinter der Warteschlangenvorhersage trauen. Sie ist sogar relevanter für dich: Du hast Kontrolle über die Warteschlangenentwicklung, weil du deine Auslastung selbst planst.
Fazit
Durch die Kurve im Bild sollte dir nun klar sein, warum dieser Beitrag mit “Produktiver durch weniger Arbeit” betitelt ist.
“Weniger Arbeit” bedeutet, weniger geplante Auslastung. Am Ende des Tages warst du 8 Stunden fleißig — nur vorher hast du dir weniger Arbeit als bisher in den Tag gepackt, weil du weißt, dass Variabilität dir deine Planung ohnehin zerschießt.
“Produktiver” bedeutet, dass du schneller Aufgaben, die auf dich warten, abarbeitest. Wenn die Warteschlange “vor dir” kürzer ist, kommen Aufgaben schneller dran; Auftraggeber erhalten schneller Ergebnisse. Du setzt aus ihrer Sicht schneller um. Das ist es, was “produktiv sein” bedeutet.
Jetzt verstehst du hoffentlich besser, warum es zu deinem Stress kommen muss, so wie du deine Arbeit planst (oder sie für dich geplant wird).
Du hast auch einen objektiven Gradmesser für deinen Stress: die Länge der Warteschlange unerledigter Aufgaben. Wenn du sie visualisierst, kannst du das schädliche Mindset dokumentieren, das Stress erzeugt. Es ist die Vorstellung, dass hohe geplante Auslastung zu höherer Produktivität führt. Das ist schlicht falsch. Und das ist keine Glaubenssache, sondern das kannst du ausrechnen.