Produktivität unter der Lupe 2/5
Die Produktivität steigt, wenn angefangene Aufgaben zuerst beendet werden, statt neue auch noch zu beginnen
Wenn die Flow Efficiency, d.h. das Verhältnis von wirklich investiertem Aufwand in eine Aufgabe (Touch Time) zur Dauer ihrer Erledigung (Flow Time) ist, und ein Maß für die Produktivität darstellt (s. den ersten Artikel in dieser Serie), wie können Sie dann diese Flow Efficiency positiv beeinflussen?
Das Schöne ist, dafür müssen Sie kein Geld ausgeben. Sie müssen keine Tools einkaufen, keine Mitarbeiter einstellen, sondern “nur” etwas umdenken.
Umdenken für höhere Produktivität
Eine Lösung braucht eine andere Herangehensweise. Tief eingegrabene, lieb gewonnene Glaubenssätze müssen aufgegeben werden. Michelles Symptom Unzuverlässigkeit hat seine Ursache nicht in mangelndem Arbeitseinsatz, sondern in falscher Arbeitsorganisation.
Die zwei aufzugebenden Glaubenssätze sind:
Neue Aufgaben sollten schnellstmöglich begonnen werden.
Ressourcen sollten möglichst pausenlos beschäftigt sein.
Nach diesen Glaubenssätzen arbeitet Michelle; und davon ist auch Martin überzeugt. Das Ergebnis spricht für sich: Michelle ist unzuverlässig in ihren Lieferungen und wenig produktiv je Aufgabe.
An die Stelle dieser kontraproduktiven Glaubenssätze sollten Michelle und Martin daher zwei neue Prinzipien setzen:
Angefangene Aufgaben sollten zuerst beendet, bevor neue begonnen werden. Finish first ist das Motto.
Ressourcen dürfen auf Aufgaben warten und müssen nicht pausenlos beschäftigt sein; Aufgaben hingegen sollten so wenig warten wie möglich.
Produktivität hat nicht mit “Ich arbeite an etwas” zu tun! Geschäftigkeit ist irrelevant. Sie ist vielmehr an Lieferungen und damit an Durchsatz gekoppelt. Relevant sind zügig hergestellte Resultate.
Erst wenn etwas herauskommt aus Beschäftigung, kann von Produktivität gesprochen. Ohne Output, ohne Produkt keine Produktivität.
Und Zügigkeit hat gewöhnlich wenig mit Touch Time zu tun, dafür aber viel mit Wait Time. Unzuverlässigkeit ist weniger ein Problem unklarer Vorstellungen über den Aufwand, den Aufgaben erfordern, dafür aber vor allem ein Problem von geplanten (weil getakteten) und ungeplanten Unterbrechungen der Arbeit an einer Aufgabe.
First-Come-First-Serve Single-Tasking
Ich schlage Ihnen ein Umdenken vor. Dann sollte ich auch zeigen können, wie sich umgedacht die Produktivität verändert. Als Beispiel dafür dienen mit Managerin Heidi und Mitarbeiter Hassan.
Heidi hat Aufgaben desselben Umfangs wie Martin, die sie Hassan im selben zeitlichen Abstand überträgt. Die Ausgangssituation ist für ihn die selbe wie für Michelle.
Aber Hassans Lieferungen erfolgen zu anderen Zeitpunkten und in anderer Reihenfolge.
Beide bekommen die erste Aufgabe zum selben Zeitpunkt vorgelegt und liefern das letzte Resultat zum selben Zeitpunkt. Beide sind 27 Stunden pausenlos am arbeiten. An Fleiß mangelt es also auch Hassan nicht. Von außen betrachtet scheint es also keine bedeutsamen Unterschied zu geben.
Oder doch? Machen die anderen Lieferzeitpunkte für Heidi einen Unterschied? Kann Heidi zufriedener mit Hassan sein als Martin mit Michelle?
Ich denke, schon. Erstens liefert Hassan das Resultat für Aufgabe A pünktlich nach 10 Stunden.
Hassan ist damit von vornherein sichtbar verlässlicher als Michelle.
Die weiteren Resultate lassen jedoch wie bei Michelle auf sich warten. Von der Aufgabenübergabe bis zur Lieferung dauert es deutlich länger als die veranschlagte Touch Time. Wie kann das sein, wenn doch Hassan angeblich den neuen Prinzipien folgt?
Tatsächlich ist das ein Effekt des Prinzips Finish first. Hassan lässt sich von einer neuen Aufgabe in der Erledigung einer angefangenen nicht stören! Das ist Single-Tasking statt Multi-Tasking.
Er arbeitet Aufgaben strickt in der Reihenfolge ihres Eingangs ab. Für ihn gilt: First-Come-First-Serve (FCFS). Wenn eine Aufgabe eintrifft und er noch mit einer anderen beschäftigt ist, legt er sie auf einen Stapel. Den arbeitet er aber nicht von oben nach unten ab, wenn er wieder freie Kapazität hat, sondern von unten nach oben, also in einer FCFS-Reihenfolge. Sein Stapel ist deshalb mit einer Warteschlange zu vergleichen.
Denken Sie nochmal an eine Arztpraxis: Statt mehrere Behandlungszimmer zu haben, in denen der Arzt sich sofort um neue Patienten zumindest ein wenig kümmert, gibt es nur ein Behandlungszimmer und ein Wartezimmer. Im Wartezimmer hat jeder Patient eine Wartemarke, die er bei Eintritt zieht.
Wenn der Arzt einen Patienten behandelt hat und das Behandlungszimmer wieder frei ist, ruft er den Patienten herein, der die derzeit niedrigste Wartemarkennummer hat. Er sitzt sozusagen am Kopf der Warteschlange — die sich im Wartezimmer jedoch anders als an der Supermarktkasse nicht als Reihe hintereinander stehender Menschen formiert. Im Wartezimmer kann jeder sitzen oder stehen, wo er mag; die FCFS-Reihenfolge wird durch die Wartemarken sichergestellt.1
Was bedeutet das für die Aufgaben B und C? Ja, sie müssen nach Eintreffen warten. Hassan ist gerade nicht “im Leerlauf”, sondern arbeitet an der vorherigen Aufgabe. Das ist im ersten Moment für Heidi frustrierend, wenn Hassan ihr mitteilt, dass er nicht sofort z.B. mit Aufgabe B beginnen wird. Michelle hatte in dieser Situation für Martin eine erfreulichere Antwort.
Doch Heidi ist nicht lange enttäuscht. Hassan sagt ihr nämlich auch, wann er mit B beginnen wird. Er weiß ja, wie lange er noch an A arbeiten muss — und nach A nimmt er sich gleich B vor. Weil klar ist, wie lange B dauern wird, macht Hassan damit also auch eine verlässliche Aussage über die Lieferzeit. Das unterscheidet ihn von Michelle. Das ist der positive Effekt des Finish-First Prinzips, das WIP auf 1 begrenzt.
Hassan liefert alle drei Ergebnisse nicht schneller als Michelle. Aber Hassan liefert jedes einzelne Ergebnis schneller oder zumindest verlässlich. Hassan kann seine Versprechen halten, weil die Lieferzeit nicht davon abhängt, was nach Eintreffen einer Aufgabe noch für Aufgaben vorgelegt werden.
Die Zeit in der Warteschlange (Queue Time (QT)) ist nur von den schon angenommenen (aber noch nicht begonnenen) Aufgaben abhängig. Die Wait Time hingegen, die bei Michelles Arbeitsorganisation entsteht, ist von der Entwicklung des WIP abhängig. Das treibt ihre Unzuverlässigkeit in schwindelnde Höhen, je mehr Aufgaben Martin ihr vorlegt, solange vorherigen noch nicht abgeschlossen sind.
Hassan braucht nicht mehr Touch Time als Michelle, Hassan ist also nicht kompetenter als sie. Hassan kann alle Aufgaben deshalb auch nicht schneller erledigen als Michelle. Allerdings ist Hassan absolut zuverlässig und auch entspannter. Insofern ist zu erwarten, dass Hassans Resultate eine höhere Qualität haben als Michelles.
Hassan kann sich auf jede Aufgabe konzentrieren. Das dient der Arbeitsqualität. Michelle hingegen springt ständig von Aufgabe zu Aufgabe. In der Realität erfordert das schon mehr Aufwand (Switch Time) als bei Hassan; es ist darüber hinaus aber auch noch anstrengender. Michelle ist am Ende des Tages geschafft, ohne mehr geschafft zu haben als Hassan. Das wird auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Stress führt zu Konflikten, die die Produktivität weiter senken.
Wie gut haben es Heidi und Hassan miteinander! Der Frust, den Heidi spürt, wenn Hassan ihr sagen muss, dass er nicht sofort mit einer Aufgabe beginnen kann, ist sehr klein. Schon einen Moment später weiß sie, was sie an Hassan und den Produktivitätsprinzipien hat, wenn er ihr einen Lieferzeitpunkt garantiert. Und seine Ergebnisqualität ist hoch. Es gibt keinen Grund für Konflikte. Alle können entspannt in den Feierabend gehen und sich auf den nächsten Tag flüssiger Zusammenarbeit freuen.
Metriken für die Qualität der Arbeitsorganisation
Was ist die Metrik, an der sich der Vorteil dieser Arbeitsorganisation ablesen lässt? Es ist die Flow Efficiency (FE). Die ist bei Michelle im Schnitt 53%, bei Hassan aber 100%.
Die Flow Efficiency korreliert positiv mit der Zuverlässigkeit: Je höher die FE, desto höher die Zuverlässigkeit; je niedriger die FE, desto geringer die Zuverlässigkeit.
Da Sie heute sehr wahrscheinlich nicht die Flow Efficiency in Ihrer Organisation messen, können Sie umgekehrt schließen: Wenn die Zuverlässigkeit bei Ihren Mitarbeitern und Kollegen heute zu wünschen übrig lässt, dann ist die Flow Efficiency sehr wahrscheinlich gering.
Und wenn die Flow Efficiency gering ist, dann ist die Flow Time voll mit Wait Time. Das kann mehrere Ursachen haben, aber eine sehr häufige ist der Glaubenssatz, dass sofortiger/früher Start der Arbeit an einer Aufgabe eine gute Sache sei. Eine bessere, als angefangene Aufgaben zuerst zu beenden.
Das ist jedoch ein massiver Fehlschluss: Nicht die Befriedigung eines Auftraggebers mit dem Satz “Ich fange gleich damit an!” ist für eine erfreuliche Zusammenarbeit jenseits des Momentes, in dem er ausgesprochen wird, wichtig. Auftraggeber sind nicht wirklich an schnellem Arbeitsbeginn interessiert; der ist für sie nur ein Stellvertreter und zwar ein sehr trauriger. Sie meinen, daran Bemühen und Zuverlässigkeit ablesen zu können. Nichts könnte jedoch ferner der Realität sein. Nein, Auftraggeber sind an Resultaten interessiert, an verlässlich gelieferten, hochqualitativen Resultaten. Und die können nicht produziert werden, wenn jede Aufgabe mit “Ich fange gleich damit an!” begrüßt wird.
Nur bei Lieferung war all die in eine Aufgabe gesteckte Mühe überhaupt etwas Wert. Wert entsteht erst am Ende. Je schneller Sie also zum Ende kommen mit einer Aufgabe, desto schneller stellen Sie Wert her. Wert bedeutet, dass der Auftraggeber Sie entlohnt. Innerhalb des Unternehmens mag der Lohn nur in einem Dankeschön und Schulterklopfen bestehen; Kunden jedoch bezahlen Geld für Resultate — und zwar erst, wenn die geliefert werden. Je verlässlicher, desto lieber zahlen sie.
Unzuverlässigkeit kostet mithin nicht nur Nerven, sondern am Ende auch Geld.
Oder wenn Ihnen die Zuverlässigkeit auch noch ein zu subjektives Maß ist, dann schauen Sie auf WIP. Im Beispiel mit Heidi und Hassan ist WIP=1. Das ist vielleicht ideal, aber nicht real. Insofern ist nicht zu erwarten, dass jeder Mitarbeiter in Ihrer Organisation mit besserer Arbeitsorganisation auf WIP=1 kommen kann. Es gibt gute Gründe für WIP oberhalb von 1; WIP entsteht nicht nur durch Multi-Tasking. Aber wenn WIP regelmäßig bei den meisten Mitarbeitern jenseits von vielleicht 3 ist, sollten Sie sehr genau hinschauen, was die Ursache ist. Die Gefahr ist groß, dass aus bestem Willen, aber aufgrund von kontraproduktiven Glaubenssätzen die Zuverlässigkeit heruntergezogen wird.
Deshalb übersetze ich hier WIP mit Work in Process und nicht Work in Progress, wie es auch heißt. Nur, weil die Arbeit an einer Aufgabe begonnen wurde, geht sie nicht unbedingt voran. Je höher WIP, desto geringer der Fortschritt (progress) bei jeder einzelnen Aufgabe.
Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was ist eigentlich Produktivität? Meine Antwort darauf: Produktivität ist überbewertet. Vergessen Sie Produktivität. Insbesondere für die Arbeit im Office ist sie ein untaugliches Maß dafür, ob das Geld, das Ihre Organisation ausgibt, gut ausgegeben ist.
Ein viel besseres Maß ist Flow Efficiency; es gilt: mehr ist besser. Die lässt sich knallhart berechnen — wenn man will. Flow Efficiency hat Einfluss auf die Lieferung von Resultaten. Genau darum geht es doch: Wert. Der Durchsatz an Resultaten ist entscheidend für den Organisationserfolg. Wer früher und verlässlicher liefern kann, ist im Vorteil.
Aber falls Sie die Flow Efficiency noch nicht gut genug beurteilen können, dann hilft als Ersatz Work in Process; es gilt: weniger ist besser.
Ich hoffe, nach den Begegnungen mit Martin, Michelle, Heidi und Hassan fühlen Sie sich motiviert, einen genaueren Blick auf die eigene Arbeitsorganisation und die um Sie herum zu werfen. Und wenn Sie dann Fragen haben, melden Sie sich gern bei Zeitgewinn Hamburg.
Multi-Tasking macht die Zuverlässigkeit kaputt. So einfach könnte ich das bisher gesagt zusammenfassen. Doch es geht noch weiter. Die Arbeitsorganisation ist noch nicht mit der Reduktion von WIP und Wait Time abgeschlossen. Was ist zum Beispiel mit der Queue Time, die Heidi zunächst etwas frustriert? Dazu mehr im nächsten Artikel.
Wir leben ja in Bulgarien und waren hier neulich im Krankenhaus. Dort gab es auch eine Warteschlange vor dem Behandlungszimmer der Arztes. Wartemarken suchten wir jedoch vergebens; es gab auch keine Reihe, an deren Ende wir uns hätten anstellen können. Stattdessen forderte man uns auf, die schon Wartenden zu fragen, wer denn der derzeitige Letzte in der Warteschlange sei. Die Person sollten wir uns merken; wenn sie aus dem Behandlungszimmer käme, wären wir die nächsten. Genauso tat es dann auch der folgende Patient, dem wir antwortetet, wie würden das Ende der Schlange sein.