Produktivität unter der Lupe 3/5
Die Belastung einer Ressource mit einer Warteschlange sichtbar machen
Sogar wenn die Lieferung von Ergebnissen zuverlässig ist, bleibt ein Rest Unzufriedenheit. Heidi — obwohl vertraut mit den Prinzipien für hohe Flow Efficiency — ist immer wieder einen Moment frustriert, wenn Sie von ihrem Mitarbeiter Hassan hört, “Damit kann ich leider nicht sofort anfangen.” Was ist da los? Kann diese Enttäuschung noch vermieden werden? (Für mehr Kontext hierzu siehe den zweiten Artikel in dieser Reihe.)
Heidi ist not amused, wenn ihre Aufgaben von Hassan zunächst in eine Warteschlange gestellt werden. Sehr erfreut ist sie andererseits, wenn Hassan wie versprochen liefert.
Eine schlechte Flow Efficiency ist eine Erklärung für Unzuverlässigkeit. Michelle aus dem ersten Artikel dieser Reihe liefert dafür reichlich Beispiele:
Aber es gibt noch eine weitere Effizienz, die gemessen werden kann: die Delivery Efficiency (DE).
Die Delivery Efficiency setzt die Flow Time ins Verhältnis zur Delivery Time. Im Beispiel ist sie für Aufgabe A 100%, weil Hassan sofort damit beginnt und ununterbrochen bis zu Lieferung daran arbeitet. Doch selbst bei ihm, der kein Multi-Tasking betreibt, ist die DE für B und C deutlich geringer, selbst wenn die Flow Efficiency dort ebenfalls 100% ist. Aufgaben B und C stehen bei ihm in einer Warteschlange.
Woran liegt das?
Überlastung erkennen
Für Managerin Heidi und Manager Martin ist es normal, ihre Aufgaben bei ihren Mitarbeitern “einzukippen”, “abzuladen”, los zu werden, wann immer sie es für richtig empfinden. Ist das nicht das Privileg von Managern und auch Kunden? Sie können sich jederzeit “entlasten”, wenn sie einen Wunsch haben. Vielleicht wird der nicht sofort erfüllt — zumindest aber können sie ihn jederzeit los werden. Moderne Tools vom Anrufbeantworter bis zum Team Chat haben das sogar noch einfacher gemacht.
Jeder Mitarbeiter ist allzeit erreichbar für eine Auftragserteilung! Ist das nicht das Paradies? Fragt sich nur, für wen. Und ob es nicht doch Konsequenzen hat.
Ja, im Moment des “Loswerdens” erscheint das wie das Paradies für den Auftraggeber. Die Verantwortung für die Erledigung ist nun beim Auftragnehmer. Je eher eine Aufgabe in einem Monolog übergeben werden kann, desto besser; dann muss der Auftraggeber nicht mit Widerrede rechnen. Im Verhältnis Manager-Mitarbeiter ist aber selbst das eigentlich unerheblich. Managerin Heidi kann immer “befehlen”, “Hassan, die Aufgabe übernimmst du jetzt!” Selbst wenn Hassan darauf antwortet, “Ok, aber ich werde damit nicht sofort beginnen.” hat Heidi sich “entlastet”. Der Ball ist in Hassans Spielfeld.
Damit tickt die Uhr aus Heidis Sicht. Hassan hat sich committet. Deshalb ist Heidi etwas frustriert, wenn er nicht sofort beginnt. Sie hätte nicht nur gern eine Flow Efficiency von 100%, sondern auch eine Delivery Efficiency von 100%.
Doch das zu erwarten ist irreal. Auftraggeber müssen sich entscheiden, was sie wollen: Eine sofortige Übergabe von Aufgaben, wann immer sie wollen? Dann ist eine Delivery Efficiency (deutlich) geringer als 100% im Grunde unausweichlich. Oder eine bessere Delivery Efficiency — was bedeuten würde, dass die Übergabe nicht zu jeder Zeit erfolgen kann.
Wie würde es aussehen, wenn Heidi nicht jederzeit Aufgaben an Hassan übergeben kann?
Aufgabe A beginnt Hassan weiterhin sofort.
Aufgabe B weist er jedoch zurück, als Heidi sie ihm erstmalig vorlegt. Hassan ist noch tief in Aufgabe A drin.
Wenig später legt ihm Heidi Aufgabe B wieder vor. Hassan sagt aber immer noch Nein.
Dann versucht Heidi es nochmal kurz darauf. Hassan ist schon ein bisschen genervt, aber er bleibt standhaft. “Nein, ich nehme die Aufgabe noch nicht an. Ich bin mit A beschäftigt.”
Erst als Hassan das Ergebnis für A geliefert hat und Heidi ihm wieder B vorlegt, akzeptiert er die Aufgabe — und beginnt sofort mit der Arbeit daran.
Zwischen der Ergebnislieferung und dem Arbeitsanfang sehen Sie eine kleine Pause. Tatsächlich tut Hassan in der Zeit nichts. Er folgt dem zweiten Prinzip für höhere Produktivität: Ressourcen warten auf Arbeit.
Während Hassan auf B konzentriert ist, versucht Heidi ihm Aufgabe C “einzukippen”. Zweimal lehnt Hassan ab. Erst beim letzten Mal akzeptiert er, obwohl immer noch mit B beschäftigt. In dem Moment kann er aber absehen, dass nur noch wenig Restarbeit an B zu tun ist; deshalb findet er es einfacher, Heidi nicht abzuweisen, sondern für kurze Zeit Aufgabe C bei sich auf den Stapel zu legen.
Nach Aufgabe B beginnt Hassan natürlich sofort mit C. Keine Pause entsteht.
Sie sehen, die Delivery Efficiency ist jetzt für A und B 100% und für C nur wenig darunter. Das ist das Ergebnis von Hassans “ablehnender Haltung”: Er hat keine weitere Aufgabe akzeptiert, solange er noch tief in einer anderen gesteckt hat. Hassan war unwillig, eine Warteschlange zu führen. Er hat eine Grenze gezogen. Das nennt man auch back pressure ausüben.
Warum sollte es von Vorteil sein, back pressure auszuüben, statt Aufgaben einfach in eine Warteschlange zu stellen? Ist der Effekt nicht derselbe? Die Flow Efficiency ändert sich dadurch nicht. Die Lieferung ist immer noch zuverlässig.
Lassen Sie mich einen Schritt zurückgehen und fragen: Woran erkennen Sie eigentlich, ob Sie oder eine Kollegin überlastet sind? Nur, weil abends die Luft raus ist, bedeutet das nicht, dass Überlast vorliegt. Geschafft ist jeder, der Multi-Tasking betreibt. Multi-Tasking ist ein selbst gemachtes Problem. Die Zusatzlast durch Umschaltaufwand und Konzentrationswechsel hat nichts mit der eigentlichen Aufgabenlast zu tun.
Also, woran merken Sie, dass Sie überlastet werden von ihren Auftraggebern?
Überlast liegt vor, wenn Aufgaben schneller hereinkommen, als Sie sie auch mit bester Arbeitsorganisation erledigen können. Überlast liegt vor, wenn Sie eine Delivery Efficiency unter 100% haben; denn dann stellen sie Aufgaben in eine Warteschlange, weil sie mit ihnen nicht sofort beginnen können.
Sind Michelle und Hassan überlastet? Selbstverständlich!
Wenn Hassan keine back pressure ausübt, kippt Heidi bei ihm Aufgaben schneller ein, als er sie erledigt. Deshalb muss er ihr sagen, dass er nicht sofort damit anfangen kann. Deshalb ist Heidi einen Moment frustriert — und nur getröstet durch die sonstige Zuverlässigkeit.
Nach dem kurzen Frustmoment jedoch ist Hassans Überlast für Heidi nicht mehr sichtbar gewesen. Er kompensierte die Überlast nach außen durch die von ihm intern geführte Aufgabenwarteschlange.
Das ist verständlich wie es verständlich ist, dass Michelle neue Aufgaben gar nicht erst in eine Warteschlange stellen will, sondern immer sofort beginnt. Wer gibt dem Auftraggeber schon gerne einen Korb? Dass Hassan sich an Finish-First hält, ist arbeitsorganisatorisch schon sehr mutig.
Last sichtbar machen
Überlastung führt über Kurz oder Lang zu Konflikten und Qualitätsverlust. Auch wenn zu Beginn noch hohe Lieferzuverlässigkeit herrscht, wird die irgendwann erodieren. Der Druck auf Ressourcen, bei unerkannter Überlast, “produktiver” zu sein, ist groß.
Wie kann dem begegnet werden? Mit Verzicht auf Commitment. Solange Hassan noch intern eine Warteschlange führt, committet er sich verfrüht zu einer Leistung. Er überlastet sich selbst, indem er mehr annimmt, als er kurzfristig beginnen und verlässlich liefern kann. Im letzten Beispiel mit back pressure macht er es noch bei Aufgabe C besser als vorher. Aber er macht es allein; Hassan und Heidi haben dieses Verständnis noch nicht gemeinsam. Das ist erst gegeben, wenn Heidi gar nicht immer wieder versucht, Hassan eine neue Aufgabe “unterzujubeln”.
Die gemeinsame Lösung besteht daher in einer Abmachungen zwischen Heidi und Hassan. Die kann als weitere Prinzipien formuliert werden:
Aufgaben werden nicht direkt an eine Ressource übergeben, sondern in eine Warteschlange vor der Ressource gestellt, die Prio(rization) Queue (PQ).
Ressourcen arbeiten Aufgaben in ihrer Prio Queue von vorne ab.
Konkret sieht die Umsetzung dieser Prinzipien zwischen Heidi und Hassan so aus:
Hassan als Ressource wartet auf Arbeit, wenn er nicht gerade eine Aufgabe erledigt. Das entspricht dem vormaligen zweiten Prinzip. So beginnt das Bild ganz links.
Wenn Hassan gerade wartet oder ins Warten kommen würde und es steht eine Aufgabe in seiner Prio Queue, dann beginnt er mit ihr — und bleibt dabei, bis er fertig ist. Das ist der Fall, sobald Aufgabe A in der Prio Queue erscheint: Hassan greift gleich zu und ist dann sozusagen nicht mehr ansprechbar bis zur Erledigung. Das entspricht dem ersten vormaligen Prinzip.
Während Hassan beschäftigt ist, kann Heide nach Gutdünken Aufgaben in die Prio Queue stellen. Hassan achtet nicht einmal darauf. Das macht Heide mit den Aufgaben B und C. Das entspricht dem obigen ersten Prinzip.
Sobald Hassan dann A beendet hat, zieht er sich sofort die dann am Anfang der Prio Queue stehende Aufgabe B. Bis hierhin unterscheidet sich die Abarbeitung noch nicht sehr von der vorherigen. Damit folgt Hassan dem obigen zweiten Prinzip.
Und jetzt wird es spannend:
Während Hassan an B werkelt, nutzt Heidi ihre Freiheit im Umgang mit der Prio Queue. Ihr fallen weitere Aufgaben ein — D und E. Ohne Diskussion mit Hassan kippt sie sie in die Queue.
Und dann fällt ihr ein, dass D eigentlich dringender als C ist. Sie sortiert die Reihenfolge in der Prio Queue um. Dito, als ihr einfällt, dass C eigentlich gar nicht mehr zu erledigen ist und E dringender als D ist.
So kommt es, dass Hassan nach Lieferung des Ergebnisses für B nicht wie bisher mit C beginnt, sondern… mit E.
Was für ein Unterschied im Arbeitsfluss! Können Sie die Vorteile erkennen?
Flow Efficiency und Delivery Efficiency sind beide auf 100%. Das bedeutet höchste Zuverlässigkeit.
Es gibt keine Diskussionen mehr zwischen Heidi und Hassan. Hassan wird durch Heidi nicht mehr in seiner Arbeit unterbrochen, weil sie ihm eine neue Aufgabe übertragen will. Er muss auch keine Kraft für ein Nein! aufbringen, um back pressure auszuüben.
Heidis Aufgaben gehen zwar immer noch in eine Warteschlange, dennoch ist die Delivery Efficiency 100%. Der Grund: Die Warteschlange ist nicht vor Heidi verborgen; Hassan committet sich auf keine Aufgabe im Voraus. Sein Versprechen ist lediglich: “Wenn ich wieder frei bin, mache ich mich an die erste Aufgabe in der Warteschlange. Welche das auch immer sein mag.” Daraus folgt: Heidi hat alle Freiheit, Aufgaben in die Warteschlange zu stellen, herauszunehmen oder darin umzusortieren. Sie kann bis zum letzten Moment ihre Meinung ändern und auf Veränderungen auf ihrer Seite der Organisation reagieren. Erst, wenn Hassan beginnt an einer Aufgabe zu arbeiten, verliert sie diese Freiheit. Dann gilt es, die Aufgabe zu Ende zu bringen, um investierte Arbeit schnellstmöglich in Wert zu verwandeln.
Für Heidi und Hassan macht diese externalisierte, explizite Warteschlange die Arbeit entspannter und flexibler.
Die Schlange vor einer Kasse im Supermarkt funktionier auch so: Sie stellen sich mit Ihrem Einkaufswagen an Ende und sind gewiss, dranzukommen, wenn sie den Anfang der Schlange erreicht haben. Der Kassierer bedient die Kunden in der Reihenfolge, wie sie in der Schlange an seiner Kasse stehen. Falls Sie nun etwas vergessen haben, verlassen Sie die Schlange und stellen sich später wieder ans neue Ende an. Den Kassierer kümmern solche Veränderungen nicht. Und wenn jemand mit nur einer Kleinigkeit weiter vorne in der Schlange fragt, ob man ihn vor lässt, dann kümmert den Kassierer diese Veränderung auch nicht.
Darüber hinaus jedoch ist die Prio Queue aber auch noch ein Lastmessinstrument. An der Veränderung der Länge einer Prio Queue kann die Organisation ablesen, ob ihre Ressource überlastet ist. Das ist der Fall, wenn die Zahl der Aufgaben in einer Prio Queue tendenziell mehr zunimmt als abnimmt.
Der Supermarkt reagiert auf eine wachsende Länge der Schlange an einer Kasse nicht damit, den Kassierer mit Zuckerbrot oder Peitsche zu motivieren, schneller zu kassieren, sondern öffnet einfach eine zweite Kasse. Die Überlastung der ersten ist offensichtlich.
Einträge in der Prio Queue sind kein WIP. Sie sind nur potenzielles WIP. Deshalb sind sie leichtgewichtiger und können notfalls eher verworfen oder umgeleitet werden.
In Stress kommt die Ressource auch nicht, nur weil sich Aufgaben in ihrer Prio Queue ansammeln. Sie verspricht ja nicht mehr, als fleißig nach einer Aufgabe die nächste zu beginnen. Die Organisation drumherum kann nun aber ohne Rätselraten Stress empfinden, weil sie klar sieht, wo eventuell eine Prio Queue eine unschöne Entwicklung zeigt. Sie kann dann gezielt überlegen…
wie sie entweder noch verbliebene Wait Time in der Ressourcenarbeit vermeiden
oder die Touch Time in der Ressource je Aufgabe reduzieren
oder die Kapazität der Ressource erhöhen kann.
Mit einer expliziten Prio Queue werden Arbeit und Last sichtbar. Darüber können sich die Beteiligten viel besser austauschen, als über irgendetwas, das mal am Telefon gesagt wurde oder verstreut im Team Chat steht.
Für eine Prio Queue braucht es keine high tech. Heidi und Hassan können sich leicht selbst eine basteln.
Eine solche einfache Aufgabentafel kann jedes Auftraggeber-Auftragnehmer-Paar ohne Kosten auf einer kleinen freien Wandfläche anlegen. Die darauf gehefteten Zettel müssen die Aufgaben nicht selbst komplett beschreiben; sie sind nur Platzhalter für die eigentliche Information an einem anderen Ort. Digitale Tools sind nicht nötig. Keine IT-Abteilung muss eingeschaltet werden. Aber wer will, darf natürlich gern ein digitales Tool benutzen wie z.B. Kanbanize:
Zwischenstand
Wie steigern Sie die Produktivität im Office? Wie machen Sie die Arbeit flüssiger? Es sind wenige Prinzipien, an die Sie sich halten müssen:
Angefangene Aufgaben werden unterbrechungsfrei erledigt: das Finish-First Prinzip.
In der Arbeit einer Aufgabe gibt es keine Wartezeiten. Wenn jemand wartet, dann sind es Ressourcen.
Aufgaben werden in einer Prio Queue vor (!) der Ressource gesammelt; die Ressource committet sich nicht darauf, sie alle zu erledigen.
Die Ressource verspricht lediglich, bei freier Kapazität mit der Aufgabe an der Spitze der Prio Queue weiterzumachen.
Das ist nicht viel, oder? Das ist einfach, oder? Ich hoffe, Sie stimmen zu.
Dennoch wird es Ihnen nicht leicht fallen, diese Prinzipien trotz allen Verständnisses und Überzeugung umzusetzen. Die übliche Organisationskultur ist meist so aufs Gegenteil gepolt, dass Sie erheblichen Widerstand spüren werden. Deshalb raten wir: Fangen Sie ganz klein im unmittelbaren Umfeld an. Erst wenn Sie dort Erfolge sehen, ziehen Sie langsam weitere Kreise.
Solche Veränderungen können von Ihnen ausgehen, wenn Sie in der Rolle von Hassan bzw. Michelle sind. Dann sprechen Sie mir ihrem Manager und stellen vor, wie Sie anders arbeiten wollen — zu seinem und ihrem Nutzen.
Oder sie können aus der Rolle wie Heidi oder Martin heraus eine Veränderung bei Ihren Mitarbeitern anstoßen. Die werden es begrüßen! Sie wollen ihnen ja eine Last nehmen.
In jedem Fall: Trauen Sie sich ein niederschwelliges Experiment. Wenn Sie konkrete Anregung für Ihr Arbeitsumfeld suchen, sprechen Sie uns gern bei Zeitgewinn Hamburg an.
Damit ist zunächst einmal alles gesagt zur Produktivität im Office mit Blick auf eine Ressource. Eigentlich. Oder: Im Idealfall. Der besteht nämlich darin, dass der Aufwand für die Aufgaben im Vorhinein recht klar ist. Das ist meistens aber nicht der Fall. Aufgaben können im Office — oder bei Wissensarbeit — sehr unterschiedlich groß ausfallen und sehr ungewiss im Umfang sein. Gelten dann noch dieselben Prinzipien? Dazu mehr im nächsten Artikel.