Sven aus der 2. Staffel von “Tanz um den Engpass” hat einige Irrungen und Wirrungen auf der Suche nach einem Ansatz für Optimierungen seines kleinen Unternehmens durchlaufen. Das geschah zum Glück nur auf dem Papier (oder in einer Tabellenkalkulation), bevor er schließlich eine Lösung zusammen mit seinen Mitarbeitern gefunden hat. Dennoch war es eine Reise, die ihn Zeit und Nerven gekostet hat.
Hätte sein Weg nicht aber auch geradliniger verlaufen können?
Sicher! Doch Sven war sich der Bedeutung des Produktionsengpasses nicht bewusst. Sein Gefühl, dass das finanzielle Problem — zu geringer Net Profit — irgendwie getrennt vom Problem wachsender Lieferzeiten gelöst werden könnte oder sollte, hatte ihn getrogen. So hat er einige Umwege gehen müssen.
Zur Erinnerung die Situation in Svens kleinem Unternehmen:
Produziert wird ein Gerät zur Optimierung der Leistung von Photovoltaik-Anlagen. Es arbeiten daran drei Mitarbeiter in einem simplen Prozess, dessen Touch Time (TT) 5 Stunden beträgt.
Sven ist beunruhigt, weil…
4500,00€ nicht so viel Net Profit sind, wie er gerne hätte. Sein Unternehmen darf gern wachsen und mehr Profit abwerfen.
Die Lieferzeit sich seit einigen Wochen ständig vergrößert und Sven Angst hat, dass das noch viel schlimmer wird, wenn sein Unternehmen durch mehr Bestellungen wächst.
Sven steckt also in einem Dilemma: Sein Unternehmen soll wachsen, darf aber nicht wachsen. Mehr Net Profit soll entstehen, doch die Produktion würde mit mehr Bestellungen nicht mithalten können.
In der obigen Übersicht gibt es viele Zahlen, an denen Sven etwas verändern könnte. Das hat er in seinen Simulationen auch getan. Doch er fand es nicht leicht, dabei den Überblick zu behalten. Gibt es nicht vielleicht eine Zahl, auf die er sich konzentrieren könnte?
Die Velocity im Fokus
Was Sven von Anfang an gebraucht hätte, wäre eine Zahl gewesen, in der Net Profit und Engpass verbunden sind.
Bei größerem Net Profit sollte die Zahl steigen, bei geringerem sinken.
Bei positiver Veränderung am Engpass sollte die Zahl auch steigen, d.h. wenn der Engpass-Aufwand steigt. Bei geringerem Engpass-Aufwand sollte sie sinken.
Warum also nicht beide Werte zusammenfassen in einer Formel? Dabei ist zu beachten, dass ihr Wert positiv korrelieren soll mit steigendem Net Profit, aber negativ mit sinkendem Bedarf am Engpass.
Mein Vorschlag für eine solche Zahl nenne ich Velocity:
Velocity = Net Profit in einer Periode / Engpass-Aufwand
Der Net Profit im Zähler der Division lässt die Velocity steigen, wenn der Net Profit steigt. Der Engpass-Aufwand, der für den Net Profit zur Verfügung steht, steht jedoch im Nenner: dadurch wirkt er auf die Velocity steigernd, wenn er sinkt. Kann der Engpass-Aufwand zur Erzielung eines Net Profit verkleinert werden, vergrößert sich die Velocity.1
Für Sven ist wichtig, wie viel Geld er mit welchem zeitlichen Einsatz erwirtschaften kann. Für mich hört sich das analog zur Geschwindigkeit in der Physik an, wo es darum geht, wie viel Weg mit welchem zeitlichen Einsatz zurückgelegt werden kann.
Physikalische Geschwindigkeit = Entfernung / Zeit, z.B. 80.000m / 3600s bzw. 80km/h.
Finanzielle Geschwindigkeit = Gewinn / Zeit, z.B. 4500€ / 2,5h bzw. 1800€/h.
Das ist Svens Velocity in der Ausgangssituation:
Der Net Profit stand ihm schon lange vor Augen. Jetzt hat er den schlicht ins Verhältnis zum Engpass-Aufwand. Damit bekommt er eine einzige Zahl, in der alle wichtigen Basisgrößen vereint sind:
Einnahmen (Sales)
Variable Kosten (Materialkosten, Total Variable Costs)
Fixkosten (Operating Expenses)
Zeit pro Stück am Engpass
Zur Erinnerung:
Durchsatz = Einnahmen - Total Variable Costs
Net Profit = Durchsatz - Operating Expenses
Wenn er Veränderungen vornimmt, kann Sven sich deshalb auf die eine Zahl konzentrieren, in der “alles zusammenläuft”, die Velocity.
Die Velocity im Vergleich der Szenarien ist aussagekräftiger als der Net Profit allein. Das zeigt die Engpass-Optimierung. Sie verändert ohne Anpassung der Bestellungsanzahl den Net Profit nicht; insofern schien sie bisher unattraktiv. Beim Blick auf die Velocity zeigt sich jedoch, dass hier dennoch etwas Positives passiert: Sie steigt um 25%, ohne dass die Einnahmen erhöht oder die Kosten gesenkt worden wären.
Noch größer ist der Ausschlag, wenn zu weniger Engpass-Aufwand noch mehr Auftragseingänge kommen. Der Net Profit steigt damit zwar nur um 26%; das spielt diese Variante gegenüber den ersten dreien nicht nach vorne. Aber die Velocity springt um 58% nach oben. Das ist ein klares Signal für den richtigen Weg.
Die Belastung nicht aus den Augen verlieren
Ich würde Sven gönnen, wenn er nur eine Zahl im Auge behalten müsste. Mit der Velocity ist er da auch schon gut bedient. Doch wie ich es auch drehe und wende, mir scheint eine zweite Zahl ebenfalls wichtig.
Die Finanzen sind in der Velocity mit drei Werten stark eingewoben. Der Engpass hingegen, der zu Svens ursprünglichem Frust geführt hat durch steigende Lieferzeiten, geht nur mit einem Wert ein. Das finde ich unausgewogen.
Der Engpass ist der Begrenzer des Wachstum und damit auch des Net Profit. Er verdient ebensolche Aufmerksamkeit wie die finanzielle Seite des Unternehmens.
Deshalb schlage ich als zweite zu beobachtende Zahl die Belastung des Engpasses mit den anliegenden Aufträgen vor. In der Ausgangssituation war die 13,64% höher als seine Kapazität:
Kein Wunder, dass die Lieferzeiten länger und länger wurden.
Die Kapazität des Engpasses berechnet sich aus dem Aufwand pro Stück (hier: 2,5h) im Verhältnis zur Gesamtkapazität in einer Periode, z.B 22 Arbeitstage à 8h = 176h. Mitarbeiterin Beate kann ohne Verzögerung also nur zu 70,4 Geräten pro Monat beitragen. Das sind im Schnitt 3,2 pro Tag. Alles, was darüber hinausgeht, kann nur mit Verzögerung, sogar wachsender Verzögerung bearbeitet werden: jeden Tag wird es um den Überlastungsanteil schlimmer.
Belastung = Anzahl der Bestellungen * Engpass-Aufwand / Engpass-Kapazität
Beispiel: 80 Bestellungen * 2,5h / 176h = 1,1363 oder 113,64% Belastung, was einer Überlastung von 13,64% entspricht.
Im obigen Szenariovergleich sollte Sven also auch ein Auge auf die Belastung haben: Existiert eine Überlast? Führt eine Veränderung zu einer Entlastung oder weiteren Belastung?
Eine 100%ige Auslastung ist dabei allerdings nicht das Ideal! Sven ist schon in der Überlastung; das merkt er sehr deutlich. Damit das in der Zukunft auch bei Auftragsspitzen nicht der Fall ist, sollte er mit mindestens 20% Unterlast planen. Er muss also bei Unterlast profitabel sein!
Damit wäre einerseits ein Puffer für erwartbare (Weihnachten) oder unerwartete (Marketingerfolg) Spitzen vorhanden; andererseits würden auf diese Weise Kapazitätsfluktuationen am Engpass (z.B. durch Krankheit oder Nacharbeit) nicht sofort mit Lieferzeitverzögerungen durchschlagen.
Beispiel: Wenn Sven mit einer durchschnittlichen Zahl von 80 Bestellungen auch für die nächsten Monate rechnet, dann sollte der Engpass um die 100 Bestellungen stemmen können. Ob Sven das durch eine Verkürzung des Engpass-Aufwands auf 1,76h pro Gerät erreicht oder durch eine Ausweitung der Stundenzahl pro Monat auf 250 durch Einstellung einer zweiten Kraft, ist ihm überlassen.
Zusammenfassung
Sven hätte zielstrebiger über Veränderungen nachdenken können, indem er sich auf zwei Kennzahlen konzentriert:
Velocity und
Belastung
Mit ihnen werden die Finanzen und der zuverlässigkeitsentscheidende und wachstumsbegrenzende Engpass auf Augenhöhe gebracht.
Vereinfacht gesagt: Mehr Velocity und weniger Belastung sind das Ziel.
Die finanziellen und produktionsbezogenen Grunddaten fließen in beiden Größen zusammen:
Der Begriff Velocity ist in der Softwareentwicklung im Scrum-Vorgehensmodell besetzt. Dort geht es um bewältigte Komplexität in einer Timebox. Mit dieser Definition hat die Velocity hier natürlich nichts zu tun.