Die Arbeit stockt mehr, denn dass sie fließt. Das ist die Realität in den meisten Organisationen, mit denen Andrea Kaden und ich arbeiten. Kein Wunder, das ist ja auch der Grund, warum man unseren Input sucht. Die Lösungsideen, die jedoch oft schon vor einer Anfrage erarbeitet wurden — sehr beliebt: “Bitte helfen Sie uns, Office 365 noch besser zu nutzen!”, “Können Sie uns Tipps für den Umgang mit E-Mail geben?” —, gehen an der häufigsten Ursache vorbei: der Selbstüberlastung.
Die Büros, die um Unterstützung anfragen, “haben zu viel auf dem Zettel”. Das ist der Fall…
weil sie ihre wahren Kapazitäten in ihren vielen Rollen/Kompetenzen nicht kennen,
weil sie ihren wahren Bedarf an Rollen/Kompetenzen bei den einzelnen Aufgaben nicht kennen,
weil sie ihre Prozesse nicht kennen,
weil sie ihre Projekte nicht angemessen strukturieren,
weil sie ihre Projekte (unbewusst) problemverschärfend planen,
weil sie angesichts keiner besseren Maßzahl nur den Berg Arbeit auf dem Tisch jedes Mitarbeiters gelten lassen: Hauptsache viel!
Wie kann es denn aber dazu kommen? Es sind doch Profis am Werk, die ihre Sache beherrschen. Fachliche Inkompetenz ist sehr selten; Frust, Demotivation, Erschöpfung hingegen sind weit verbreitet. Sind sie die Ursache hinter all dem, was schief läuft? Nein.
Missverständnisse in Bezug auf die Arbeitsorganisation stehen einer flüssigen Arbeit, die Kunden und Mitarbeiter zufrieden macht, im Wege. Fachliche Kompetenz bedeutet nicht automatisch arbeitsorganisatorische Kompetenz. Das mag seltsam klingen, ist jedoch die Realität. Wer fit in Immobilienverwaltung, Steuerberatung, EU-Fördergesetzen oder Medizinproduktentwicklung ist, hat deshalb nicht unbedingt gelernt, seine Arbeit, die Arbeit im Team oder gar abteilungsübergreifend zu organisieren. Fachliche Ausbildung rüstet nicht für den Ansturm von Stakeholdern mit ihren tausend Wünschen im Tagesgeschäft.
Die Reaktion darauf ist deshalb nicht systematisch, sondern bestenfalls bemüht und gutwillig. Leider ist das in vielen Fällen zu wenig — und so entsteht eine Überlastungsspirale, die sich immer schneller dreht. Das kann auf Dauer keine Freude machen und keine guten, d.h. verlässlichen und hochqualitativen Ergebnisse liefern.
Aber wie kann es denn anders gehen?
In dieser Artikelreihe möchte ich diese Gemengelage erkunden und ein paar Hinweise geben. Ich fühle mich angeregt durch ein Beispiel, das ich im Buch The Book of TameFlow von Steve Tendon gelesen habe. Auf wenigen Seiten hat der Autor dort demonstriert, wie ein Aufgaben-Dschungel sich lichten lässt durch Loslassen überkommener und kontraproduktiver Vorstellungen davon, wie Arbeit zu organisieren sei.
Dieses Beispiel nehme ich als Anregung, um Ihnen das Ausgangsproblem und anschließend einen Lösungsansatz näher zu bringen. In kleinen Schritten möchte ich Sie von üblichen Mustern zu neuem Fluss führen. Ich selbst reflektiere dabei die Prinzipien nochmal und Sie bekommen eine konzentrierte Darstellung, ohne das ganze Buch von Tendon studieren zu müssen (auch wenn sich das sehr lohnt).
Ein kleines Start-up Unternehmen soll mir als Szenario für die Erklärungen dienen. Lehnen Sie sich also zurück und lassen Sie sich von mir eine Geschichte erzählen…
Meet the Team
Mein imaginäres Start-up nennt sich Instant Insight und hat sich zum Ziel gesetzt, langweilige Geschäftsberichte verständlicher, informativer und zugänglicher zu machen. Das Motto: “Mit besserer Darstellung zu besseren Entscheidungen.”
Annette, Beatrice und Carolin sind begeisterte Designerinnen und Analystinnen und glauben, dass sie mit ihrer Leidenschaft auch ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Sie wollen die besten Geschäftsberichte liefern, die sich aus rohen Zahlen gestalten lassen, und konzentrieren sich daher zunächst auf eine überschaubare Zielgruppe von mittelständischen Firmen, für die sie ein Grundgerüst für Berichte erarbeitet haben. Sie glauben, dass es einen Markt gibt und sich Unternehmen finden lassen, die die Aufbereitung ihrer Zahlen outsourcen würden, wenn das Ergebnis ihnen die Unternehmensdarstellung und -steuerung erleichterte.
Die Produktion der Geschäftsberichte hat drei wesentliche Aspekte; für jeden ist eine der Gründerinnen Spezialistin. Die Kunden liefern gemäß einer Checkliste das Datenausgangsmaterial und die drei zaubern daraus einen Bericht, der visuell beeindruckt. Sie denken, mit klarem Fokus kann dabei jede ihre besondere Kompetenz am besten in ihr kleines Unternehmen einbringen.
Bestellungen kommen telefonisch und per E-Mail mit Dateianhängen; die Auslieferung erfolgt in Form eines PDF, das die Kunden in ihren Unternehmen verteilen oder drucken und binden lassen.
Auch wenn die Geschäftsberichte Einzelstücke sind und die Ausgangsdaten sehr variieren, haben die Unternehmerinnen es geschafft, die Produktion stark zu standardisieren: einen Bericht anzufertigen dauert von Anfang bis Ende 5,5 Stunden.
Das Geschäft nimmt Fahrt auf
Ein neues Business aufzuziehen, ist natürlich kein Selbstgänger. Es erfordert Mut und Biss und Geduld. Aber Annette, Beatrice und Carolin sind clever und beginnen dort, wo sie schon Kontakte haben: bei LinkedIn, XING, einigen Meetups und auch bei Facebook promoten sie ihre Dienstleistung immer wieder mit hübschen Bildern, kleinen Geschichten und “Backstage-Berichten” aus der Produktion, so dass immer mal wieder Bestellungen eingehen.
Die Gründerinnen haben schon bald etwas zu tun; das ist gut. Belastend ist die Auftragslage allerdings noch nicht. Sie können die Aufträge entspannt abarbeiten.
Nach einer Weile nehmen die Auftragszahlen dann allerdings zu; die Kombination aus visuellem Appeal und gutem Preis kommt an. Das ist sehr erfreulich; so fließt mehr Geld in die Kasse. Die Geschäftsidee scheint erfolgreich. Dadurch sind die Tage jetzt schon weniger entspannt. Viel Zeit für weitere Social Media Postings bleibt nicht; der ganze Tag ist ausgefüllt mit Berichtsproduktion.
Da Aufträge oft kurzfristig reinkommen — heute bestellt für die Vorstandssitzung übermorgen —, kann die Produktion nicht mehr in allen Fällen komplett für einen der nächsten Tage eingeplant werden. Sie muss manchmal an einem Tag beginnen und am nächsten beendet werden. Während die reine Arbeitszeit immer noch 5,5 Stunden ist (sog. Touch Time (TT) bei TameFlow), dauert es von Beginn bis Ende nun womöglich 2 Stunden am ersten Tag plus 3,5 Stunden am zweiten Tag plus 16 Stunden Unterbrechung durch Feierabend (sog. Wait Time (WT) bei TameFlow), also insgesamt 21,5 Stunden. TameFlow nennt das die Flow Time (FT).
In der Touch Time wird das Produkt im Herstellungsprozess angefasst. In der Wait Time wartet das Produkt aus irgendeinem Grund darauf, wieder angefasst zu werden; die Arbeit ruht. Zusammen ergibt beides die Zeit, die das Produkt braucht, um durch den ganzen Prozess zu fließen, die Flow Time.
Die Gründerinnen kommen noch nicht vor Arbeit nicht in den Schlaf. Sie sind noch nicht überlastet. Gut so! Das wäre auch nicht vorteilhaft für die Entwicklung des Geschäftes. Sie können sich noch darüber freuen, dass ihr Angebot Kunden findet: es gibt einen Markt, das Produkt und der Preis stimmen, sie liefern zuverlässig. Noch. Denn ob das so bleibt, wenn die Nachfrage weiter steigt?
Alles ist noch entspannt; in einer Hinsicht jedoch sollten die Unternehmerinnen schon jetzt hellhörig werden: Wieviel Kapazität können sie eigentlich der Produktion zur Verfügung stellen? Bisher planen sie mit dem ganzen Arbeitstag von 8 Stunden. Nur, wenn der nicht mit Geschäftsberichtsproduktion ausgefüllt ist, tun sie andere Dinge, z.B. neue Designvorlagen entwerfen oder die Werbetrommel rühren.
Doch ist das eine realistische Vorstellung, wenn die Zahl der Bestellungen wächst?
Mehr dazu in den nächsten Artikeln dieser Serie. Wenn Sie keinen verpassen wollen, klicken Sie den Knopf: