Arbeit macht dumm
Genauer: Zu viel Arbeit macht dumm. Zu viel Arbeitslast macht dumm. Doch das sind Differenzierungen, die im Alltag untergehen. Deshalb lautet die Überschrift kurz und knackig und provokant “Arbeit macht dumm”.
Wie viel ist “zu viel”? Ab wann setzt Dummheit ein? Ab 85%. Sagt die Wissenschaft. Details zur Begründung folgen in einem weiteren Artikel. Das Stichwort für Neugierige ist bis dahin Warteschlangentheorie. Die Verbindung zwischen ihr und dem Thema Produktivität im Office, scheint bisher leider nur schwach.
Also, ab 85% Arbeitslast oder Auslastung der Arbeitszeit mit Arbeit laut Planung, geht es bergab. Ausführlich hat das Gunter Dueck in seinem Buch “Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam” beschrieben. Hier möchte ich aus den vielen Gründen einige herausheben, die auch ohne Wissenschaft schon offensichtlich sein sollten.
Zu viel Arbeit macht Stress
Wer unter zu viel Arbeit leidet, ist im Stress. Je mehr zu viel, desto mehr Stress. Die Definition von zu viel ist im Grunde, Stress zu empfinden. Umgekehrt: Wer entspannt und stressfrei arbeitet, hat gerade keine hohe Arbeitslast.
Jeder weiß, was bei Stress passiert: Fehler. Mindestens.
Stress macht einen Tunnelblick, weil man endlich das, wo am meisten gedrängelt wird, fertig bekommen will.
Stress führt in Missverständnisse, weil man keine Zeit mehr hat, genau hinzuhören.
Stress triggert Konflikte mit unfruchtbaren Diskussionen, weil Fehler gemacht wurden und Missverständnisse entstanden sind.
Stress verleitet zu Multitasking, weil mindestens Nachbesserungen für fehlerhaft Abgeschlossenes zwischengeschoben werden müssen.
Kurz: Stress erhöht die Arbeitslast weiter. Und wachsende Arbeitslast führt zu überproportional wachsenden Wartezeiten für weitere Aufgaben. Das sagt die ominöse Warteschlangentheorie.
Echte Produktivität — effortless efficiency — entsteht also nur bei geringer(er) (!) Arbeitslast.
Weniger Last für mehr wertvolle Ergebnisse.
Scheinbar paradox, oder? Aber so ist es. Sagt… die Wissenschaft.
Und ein Grund dafür liegt darin, dass steigende Arbeitslast zu größerer Dummheit führt.
Was ist Dummheit?
Mit Dummheit meine ich, wenn man etwas nicht weiß, was man wissen könnte bzw. sollte und/oder vorhandenes Wissen nicht anwendet.
Triviales Beispiel: Ich weiß, wie ich mir die Schuhe zubinden kann, tue das aber nicht, weil ich in Eile bin — und dann stolpere ich über die ungebundenen Schnürsenkel. Ich war dumm, meine Schuhe nicht zuzubinden.
Gegenteiliges Beispiel: Ich weiß nicht, wie ich ohne Feuerzeug ein Feuer in der Wildnis entfachen kann. Wenn ich mich dann im Wald verirre und kein Feuer machen kann, bin ich nicht dumm. Jedenfalls nicht in Bezug aufs Feuer machen. Mit fehlt Wissen, das ich legitim als nicht relevant angesehen habe im bisherigen Leben.
Die Arbeit zur Zufriedenheit aller zu erledigen, braucht auch Wissen. In Bezug darauf kann man dumm sein, wenn man es von vornherein nicht hat. Hoffentlich passiert das nicht. Unternehmen versuchen natürlich zu vermeiden, dass ihre Mitarbeiter “dumm dastehen”, indem sie sehr bewusste Personalentscheidungen treffen.
Doch darüber hinaus wird dem Risiko von Dummheit kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Dummheit kann jederzeit gerade durch zu viel Arbeit entstehen.
Stillstand - Ich lerne nichts dazu
Bei der Bewerberauswahl wird noch peinlich auf viel Wissen aka hohe Qualifikation geachtet. Bewerber werden auch damit geworben, dass das Unternehmen Weiterbildung finanziert. Doch in der Realität sieht das schnell anders aus.
Denn die Realität ist voller Stress. Das Synonym für Tagesgeschäft ist Stress. So viel zu tun, so wenig Zeit. Ständig klingelt das Telefon, Kollegen und Vorgesetzte stehen in der Tür und wollen etwas, in der Email-Inbox lauern weitere Aufträge oder ärgerliche Nachfragen, dauernde Meetings zerschießen den Tag… für die eigentliche Arbeit bleibt keine Zeit. Deshalb entscheiden manche, besonders früh zu kommen oder besonders lange zu bleiben oder heutzutage im Homeoffice zu arbeiten. So finden sie abseits des Trubels bzw. außerhalb der Kernarbeitszeit eine gewisse Ruhe für ihre Arbeit.
Doch diese Strategien deuten eben auf die Normalität hin: Stress durch Überlastung.
Das Erste, das solchen Bedingungen zum Opfer fällt ist die Weiterbildung. Wann soll dafür Zeit sein? Während der Arbeitszeit? Kaum. Nach der Arbeitszeit? Natürlich nicht; die Überlastung fordert ja doppelte Entspannung. Im Bildungsurlaub? Wann wurde der zuletzt bewilligt? Außerdem würde Bildungsurlaub unkollegial sein, denn die Kollegen schuften ja weiter.
Ganz zu schweigen vom Budget. Das wird immer knapper nicht nur für die Weiterbildung. Gespart werden muss überall.
Aber auch ohne Sparzwang lässt der Stress Zeit und Muße für Weiterbildung erodieren. Und das bedeutet für das Wissen Stillstand. Wer sich nicht weiterbildet, bleibt auf dem Stand bei Einstellung. Persönlich und für die Firma bewegt sich nichts — was letztlich heißt, dass man gegenüber anderen (Unternehmen) oder dem, was man wissen könnte, dem state-of-the-art zurückbleibt.
Ohne Weiterbildung verdummt man.
Rückfall - Ich tue nicht, was ich kann
Wenn die Weiterbildung auf der Strecke bleibt aufgrund von Überlastung, ist das schlimm genug. Doch es kommt noch dicker!
Wer unter Stress arbeitet, wendet nicht immer sein volles Wissen an. Neues kommt schon gar nicht zum Einsatz, selbst wenn mal eine Weiterbildung besucht worden ist, weil das Neue notorisch mehr Zeit als das Alte braucht. Das kann sich niemand im Tagesgeschäft erlauben; da muss es flutschen.
Wenn der Stress noch weiter steigt, wird allerdings auch das Alte, das Bekannte nicht (voll) zum Einsatz gebracht. Man nimmt Abkürzungen. Man übersieht Feinheiten. Man wendet unvollständig und/oder fehlerhaft an. Eigentlich weiß man mehr — nur kommt man nicht dazu, ganz danach zu arbeiten.
Das heißt, in der Ausführung der Arbeit ist man dümmer, als man eigentlich ist. In Ruhe würde das Wissen voll zur Anwendung kommen, unter Stress nur ein Teil.
Effektiv ist das ein Rückfall in Zeiten, als man noch nicht so viel Wissen hatte. Es ist eine Regression auf eine frühere Ausbildungsstufe.
In Panik (oder auch nur Eile) durchlaufen Menschen auch eine Regression: Sie wissen, dass alle schneller z.B. aus dem Flugzeug aussteigen, wenn sie sich ruhig verhalten und geordnet bewegen. Das ist auch nicht schwierig. Sobald die Not jedoch eine gewisse Schwelle überschreitet, wird dieses Wissen vergessen — und die Menschen fallen auf eine “niedrigere Entwicklungsstufe” zurück. Ordnung entsteht dann nicht, sondern Chaos. Die Regression führt zu einer spürbaren, aber eigentlich unnötigen zusätzlichen Gefahr.
Regression macht dumm.
Schwund - Ich kann nicht mehr, was ich einmal konnte
Wo über lange Zeit eine Fähigkeit, sei sie körperlich oder geistig, nicht zur Anwendung kommt, schwindet sie. Das ist eine ökonomische Reaktion. Warum Energie in den Erhalt investieren, wenn die Fähigkeit nicht gebraucht wird? Besser, die Energie steht für etwas anderes zur Verfügung, was im Moment mehr Relevanz hat.
Eine solche Fähigkeit ist die für den Spracherwerb. Sie ist bei Kindern sehr ausgeprägt und schwindet in der Adoleszenz. Die Leichtigkeit, mit der 3-Jährige auch 2 oder 3 Sprachen gleichzeitig erwerben, haben die allermeisten Erwachsenen nicht mehr. Wozu auch. Ihre Umgebung ist sprachlich bekannt und stabil. Sie müssen jetzt etwas anderes lernen und können.
Gleiches gilt für Muskeln ganz offensichtlich. Wer ins Sportstudio geht, kann schon nach wenigen Besuchen z.B. einen Zuwachs des Bizepsmuskels beobachten oder eine Zunahme der Kondition. Durch Gebrauch werden diese Fähigkeiten ausgebaut.
Sobald die Sportstudio-Besuche jedoch aufhören, wird der Bizeps wieder schlaff und die Kondition geht in den Keller. So ist das ganz natürlich. Die Muskeln atrophieren, sie schwinden. Und wenn es noch länger an Gebrauch mangelt, dann verkümmern sie. Das ist bei alten Menschen in Pflegeheimen ganz offensichtlich.
Dito das Wissen. Wer in der Schule noch den Dreisatz oder die Differentialrechnung beherrschte, kann das nicht immer von sich noch im Alter von 43 Jahren sagen. Wer flüssig in der zweiten Fremdsprache in der Schule war, wird nach 20 Jahren ohne ihren Gebrauch große Mühe haben, sie zu sprechen.
Wissen verkümmert genauso wie Muskelkraft oder Kondition.
Wenn also keine Weiterbildung stattfindet, um das Wissen aktiv zu erweitern oder zumindest zu erhalten, wenn darüber hinaus ständig in Regression gearbeitet wird, weil der Stress die vollständige Anwendung des Wissens nicht zulässt… dann wird das vorhandene Wissen schrumpfen. Irgendwann wird man nicht mehr wissen, wie es vollständig und richtig geht, was man tun soll. Dann kann man nur noch die eingeschränkte, tagesgeschäfttaugliche verkümmerte Variante.
Schwund durch Nichtgebrauch macht dumm.
Fazit
Wer hochmotiviert und wissend eingestellt wurde, regrediert und atrophiert unter Stress. Ständige Arbeit unter Stress, d.h. in zu hoher Auslastung, macht dumm.
Wenn Unternehmen meinen, sie wären besonders produktiv, wenn sie ihre Mitarbeiter ständig besonders auslasteten, dann produzieren sie Dummheit. Und das ist dumm, denn das ist Wissen, das Unternehmen haben können und sollten.
Ihre Grundhaltung des busy-busy Mindset lässt Unternehmen verdummen. Sie setzen sich selbst unter Stress. Stillstand, Rückfall, gar Schwund an Kompetenz sind die Folge.
Wer keinen Abstand von der Arbeit nehmen kann, wird dumm. (Ständige) Arbeit macht dumm.