Produktiver durch weniger Arbeit - Teil 1
Warteschlangen als Stressindikatoren
Stress macht kaputt. Stress macht dich kaputt. Stress macht die Beziehungen zu anderen kaputt. Stress ist Sand im Getriebe jeder Organisation.
Wie entsteht Stress? Wenn mehr getan werden soll, als getan werden kann. Wenn die Arbeitsmenge die zur Verfügung stehende Arbeitszeit übersteigt, ist das Stress pur.
Es gibt noch andere Ursachen für Stress, doch ich denke, diese eine reicht schon aus, um einmal genauer hinzuschauen. Wenn alle darüber klagen, dass die eigene Arbeit so stressig ist und “die lieben Kollegen” mit ihrer Arbeit immer so unzuverlässig sind — sie liefern nicht termingerecht, die Lieferungen sind von schlechter Qualität —, ist etwas grundsätzlich im Argen. Entspannung, Zufriedenheit, Harmonie kann es nicht geben, solange diesem Dauerzustand nicht auf den Grund gegangen wird. Was ist da los?
Was ist Arbeitslast?
Alles beginnt mit der Arbeitszeit. Ich nehme der Einfachheit halber 8 Stunden pro Arbeitstag und 40 Stunden pro Arbeitswoche an. Diese Arbeitszeit ist die Kapazität, die grundsätzlich zur Verfügung steht, um Aufgaben zu erledigen. Dein Arbeitgeber bezahlt dir dein Gehalt dafür, dass du möglichst viel in dieser Zeit schaffst.
Oder?
Das ist die Idealvorstellung. Die Realität ist jedoch eher, dass dein Arbeitgeber dir dein Gehalt dafür zahlt, dass du in dieser Zeit möglichst stark ausgelastet bist. Du sollst nicht herumsitzen, sondern “etwas wegschaffen”.
Der Unterschied zwischen beiden Formulierungen mag dir klein erscheinen, doch er hat eine große Auswirkung auf die Praxis. Denn wenn du gestresst bist, dann vor allem, weil dein Arbeitgeber dich möglichst stark auslasten will, statt für Resultate zu bezahlen.
Deine Kapazität von 8 Stunden pro Tag wendest du auf Aufgaben an. Je mehr deiner Kapazität du an Aufgaben sitzt, desto höher deiner Auslastung, desto größer deine Arbeitslast.
Es ist für dich wahrscheinlich schwer, deine genaue Auslastung zu bestimmen. Die fängst ja nicht morgens um 9:00 mit der Arbeit an einer Aufgabe an und arbeitest dann ununterbrochen, bis du fertig bist, um danach Däumchen zu drehen. Vielmehr wechseln sich Arbeit an Aufgaben und Zeiten gewisser Untätigkeit (gewollt oder ungewollt) ab.
Eine Überlastung liegt ganz klar vor, wenn du Schwierigkeiten hast, pünktlich Feierabend zu machen und die Arbeitszeit über die 8 Stunden ausdehnst.
Dass du ab einer gewissen Auslastung Stress empfindest, ist normal und zu erwarten. Ab wann wird das sein? Ich denke mal, irgendwann jenseits der 50% beginnt der Stress. Aber sind es 60% oder erst 95%? Das hast du im Gefühl, das ist auch für jeden Menschen ein bisschen verschieden, doch unten werde ich das objektivieren.
Ob jemand flink ist oder eher bedächtig bei der Arbeit, ist für diese Betrachtung unerheblich. Ich nehme an: Jede arbeitet nach bestem Vermögen, Wissen und Gewissen.
Planung vs. Realität
Ist denn nicht eine hohe Auslastung ein völlig verständlicher Wunsch deines Arbeitgebers? Natürlich. Dass du am Ende des Tages möglichst viel deiner Kapazität auf Aufgaben verwendet hast, ist gut und richtig.
Deine Arbeit besteht zunächst aus Fachtätigkeiten, z.B. Buchhaltung, Marketing, Programmierung; dafür wurdest du eingestellt. Deine Arbeit besteht aber natürlich auch aus administrativen Aufgaben für die Organisation, z.B. Reisekostenabrechnung oder Arbeitszeiterfassung. Darüber hinaus mögen Berichte nötig sein, die den Fortschritt deiner Arbeit dokumentieren. Falls du Glück hast, zählt zu deiner Arbeit auch Weiterbildung. Und schließlich kommst du um “housekeeping” nicht herum, wozu die Abarbeitung deines Postfachs gehört oder auch die Tagesplanung.
Wenn du am Ende eines 8-Stunden Tages sagen kannst, ich habe 7,5 Stunden mit diesen Tätigkeiten zugebracht, ist das ein gutes Ergebnis. Das freut den Arbeitgeber und das sollte dir auch keinen Stress bereiten. Du hast Pausenzeiten, die hoffentlich dafür sorgen, dass du während der 8 Stunden munter und arbeitsfähig bleibst.
Nein, Stress entsteht nicht dadurch, dass du deine Arbeitszeit voll ausfüllst. Das ist dein Job.
Stress entsteht durch eine Differenz. Das ist die Differenz zwischen deinem Plan und der Realität.
Um den so zerstörerischen Stress zu verstehen, müssen wir die Arbeitszeit doppelt in den Blick nehmen: bevor du mit der Arbeit beginnst und nach getaner Arbeit.
Dieser Unterschied ist dir nicht unbekannt, oder? Du machst dir einen schönen Plan für den nächsten Tag — und dann kommt alles anders. Auch das ist normal. So ist das Leben, die Arbeit.
Doch genau hier geht es los mit dem Stress! Stress ist unvermeidbar, wenn du diese unvermeidbare Realität nicht berücksichtigst. Dein Arbeitgeber programmiert den Stress aller vor, wenn er diese unvermeidbare Realität nicht berücksichtigt.
Stress entsteht immer dann, wenn der Plan für die Realität gehalten wird!
Sobald du anfängst, in einer Weise zu planen, die der Differenz zwischen Plan und Realität nicht Rechnung trägt, geht es steil bergab:
Diese Planung führt direkt in den Stress. Das ist ein Desaster mit Ansage. Hier ist der Stress, die Überlastung garantiert.
Wann kommt die Arbeit?
Planung setzt voraus, dass du eine Idee davon hast, wann Arbeit in welchem Umfang auf dich zukommt. Hier lassen sich zwei Situationen unterscheiden:
Es liegt “ein Haufen Arbeit” an, den du einplanen musst.
Arbeit kommt ohne Vorwarnung auf dich zu und muss möglichst umgehend erledigt werden.
In der Realität ist es wahrscheinlich eine Mischung für dich. Doch lass uns diese Fälle kurz getrennt betrachten. Im ersten hast du eine gewisse Freiheit: du kannst die Arbeit nach verschiedenen Gesichtspunkten früher oder später einplanen.
Bei dieser Planung sind die anliegenden Aufgaben auf die nächsten beiden Tage vollständig verteilt. Die Planung lastet dich fast komplett aus. Das würde deinen Arbeitgeber bestimmt freuen.
Auf dem Haufen sehen die Aufgaben alle noch sehr ähnlich aus. Jede könnte z.B. ein Ticket in einem Ticket-System sein. Doch während der Planung machst du dir Gedanken darüber, wie lange du wahrscheinlich für ihre Erledigung brauchst. Dort nehmen sie mehr oder weniger von deiner täglichen Arbeitskapazität ein.
Etwas anders ist es, wenn die Arbeit während des Tages hereinkommt:
Hier verteilst du nichts Vorhandenes, sondern reagierst auf Aktuelles. Das ist unproblematisch, wenn eine neue Aufgabe erst kommt, nachdem du eine vorherige schon abgeschlossen hast. Manchmal jedoch kommen Aufgaben schneller herein, als du sie abarbeiten kannst. Dann gibt es einen Überhang und du bist in der vorherigen Situation, wo du die Erledigung “eines Haufens Arbeit” einplanen musst.
Kommt dir die zweite Situation bekannt vor? Passiert es dir, dass Aufgaben schneller hereinkommen, als du sie erledigen kannst? Entsteht ein Haufen von Unerledigtem?
Willkommen im Stress!
Warteschlangen als Stressmesser
Die vollen Tage in den vorherigen Bildern sind nicht das Problem. Wie gesagt: dass dein Tag am Ende zum größten Teil voll mit Arbeit war, ist kein Problem, sondern die Lösung. Dann verdienst du dein Gehalt zurecht. Du warst vor allem beschäftigt. Die bezahlte Kapazität wurde ausgenutzt. Dein Arbeitgeber wird zufrieden sein.
In der zweiten Situation gibt es hier noch kein Problem:
Doch hier deutet es sich an:
Zwei Aufgaben kommen vor Abschluss einer vorherigen an. Zwei Aufgaben stehen bis dahin in der Schlange vor dir und warten auf Erledigung. Eine Aufgabe gehst du heute noch später an, die zweite wartet weiter darauf, dass du morgen Zeit hast.
Dass du Aufgaben nicht zeitnah, d.h. bald nach ihrem Eingang, anfängst und auch noch erledigst, das macht dir und anderen Stress.
Dass sich Aufgaben bei dir auf einem Stapel türmen, das ist ein Zeichen von Stress. Die Länge der Warteschlange an unerledigten Aufgaben — angefangene und noch nicht angefangene —, ist ein klares Zeichen für deine Belastung.
Zur Verdeutlichung ein kleines Rechenexempel:
Nehmen wir an, pro Woche werden an dich 100 Aufgaben herangetragen. Manche dauern länger, andere sind schnell erledigt. Von diesen 100 Aufgaben schaffst du aber leider nur 95%. Das hört sich nicht schlimm an, oder? Nur 5% bleiben liegen und müssen in der nächsten Woche erledigt werden. Das wirst du schaffen, oder?
Ok, dann ist hier die Rechnung:
Woche: 100 Aufgaben neu, 95 erledigt.
Woche: 5 in der Warteschlange, 100 neue Aufgaben = 105 Aufgaben; du erledigst wieder 95.
Woche: 10 in der Warteschlange, 100 neue Aufgaben = 110 Aufgaben; du erledigst 95.
Woche: 15 in der Warteschlange, 100 neue Aufgaben = 115 Aufgaben; du erledigst 95.
Woche: 20 in der Warteschlange…
Das sieht nicht gut aus. Alsbald werden dir die, von denen die Aufgaben kommen, im Nacken sitzen: “Warum ist meine Aufgabe schon 3 Wochen unerledigt?” (Denn nur weil du jede Woche 95 Aufgaben schaffst, heißt das nicht, dass du konsequent zuerst die Warteschlange aus der Vorwoche abarbeitest. Neues hat immer die Tendenz, eher angegangen zu werden.)
Wenn das deine Arbeitssituation wäre, wärest du ganz klar überlastet. Du kannst nur 95 Aufgaben pro Woche erledigen, aber 100 kommen herein. Das sind 5/95=5,2% mehr, als du Kapazität hast.
Deine Arbeitszeit ist voll ausgefüllt. Das freut deinen Arbeitgeber! Doch du bist im Stress. Und jede Woche wird der Stress größer.
Der Blick auf deine Arbeitszeit ist mithin nicht informativ, wenn du wissen willst, ob und warum du im Stress bist. Die ist am Ende des Tages ja immer ausgefüllt. Selbst wenn du keine Überstunden machen solltest, kannst du gehörig im Stress sein bei “nur ausgefüllter Arbeitszeit”.
Nein, ein Korrelat für deinen Stress ist die Länge der Warteschlange unerledigter Aufgaben.
Zuerst stehen Aufgaben in der Warteschlange vor dir. Sie sind schon eingetroffen, aber du hast noch nicht mit der Arbeit an ihnen begonnen.
Dann stehen Aufgaben in einer Warteschlange “hinter dir”. Du hast die Arbeit an ihnen begonnen, aber noch nicht abgeschlossen.
Wenn schon eine Warteschlange vor dir ist, du eine Aufgabe beginnst und damit eine Warteschlange hinter dir aufbaust, derweil jedoch weitere Aufgaben eintreffen, wächst natürlich die Warteschlange vor dir.
Das ist schon stressinduzierend. Doch es wird noch schlimmer! Denn je länger die Warteschlange vor dir wird, desto mehr kommst du in Versuchung, Aufgaben zu beginnen, ohne andere zuerst abzuschließen. Du beginnst mit dem Multitasking. Das reduziert die Warteschlange zwar vor dir — doch insgesamt änderst sich nichts. Eine die zusätzlich begonnene Aufgabe wandert nur in die Warteschlange hinter dir.
Du gewinnst nichts durch das Multitasking. Nur für einen Moment ist derjenige, von dem die Aufgabe kommt, beruhigt, weil du damit begonnen hast. Das gibt sich jedoch alsbald, wenn weitere Aufgaben hereinkommen, die du ebenfalls in dein Multitasking aufnimmst. Denn Multitasking sorgt dafür, dass immer weniger fertig wird. Es belastet deine Kapazität zusätzlich durch “Umschaltzeiten” zwischen Aufgaben; zusätzlich dauert jede Aufgabe länger bis zur Erledigung. Das vorstehende Bild ist insofern falsch. Multitasking siehst in Wirklichkeit so aus:
Es hat keinen Vorteil. Es erzeugt nur weiteren Stress. Aber das ist eine andere Sache. Hier will ich mich auf die Länge der Warteschlange konzentrieren, die auch durch Multitasking nicht reduziert wird.
Ja, Multitasking verschlimmert das Warteschlangenproblem sogar, denn wer hinter dir als abarbeitende Ressource darauf wartet, dass du endlich mit eine Aufgabe fertig wirst, die du als angefangen bekanntgegeben hast, der ist gewöhnlich noch ungeduldiger als jemand, der vor dir wartet.
Zwischenstand
Stress bei der Arbeit macht niemandem Freude: dir nicht, nicht denen, für die du Aufgaben erledigst und auch nicht deinen Vorgesetzten.
Stress entsteht vor allem durch zu hohe Arbeitslast. Die ist aber nicht an der ausgefüllten Zeit am Ende des Tages ablesbar. Vielmehr zeigt sie sich in der Länge der Schlange wartender Aufgaben.
Je länger die Warteschlangen vor und hinter dir, desto größer dein Stress.
Daraus ergeben sich zwei Fragen:
Wie kannst du Warteschlangen sichtbar machen?
Wie kannst du der Entwicklung von Warteschlangen vorbeugen?
Die erste Frage will ich hier nicht weiter behandeln. Die allereinfachste Antwort könnte auch lauten: Klebe für jede Aufgabe in deinen Warteschlangen einen Zettel an die Wand. Du wirst schon sehen, wie sich so eine Aufgabentafel entwickelt.
Die zweite Frage hat schon eine Teilantwort erhalten: Vermeide Multitasking. Wie viele Aufgaben auch immer auf dich warten, es werden durch Multitasking nicht weniger, sondern sogar tendenziell mehr. Denn mit Multitasking dauert die Erledigung der einzelnen Aufgaben immer länger; dass erhöht das Risiko, dass schon wieder neue Aufgaben eintreffen und sich in die Warteschlange vor dir einreihen müssen.
Deutlicher wird dein Stress jedoch durch eine andere Maßnahme reduziert. Du musst deine Kapazitätsplanung verändern. Darum wird es im zweiten Teil des Artikels gehen.
Hier gehts weiter…