Der Fluch des Anrufbeantworters
Wie eine gut gemeinte Technologie geholfen hat, die Überlastung im Office anzuheizen
Der Anrufbeantworter — neudeutsch: die Mailbox — gilt gemeinhin als segensreiche Erfindung. Für die Anrufer hat er vergeblichen Anrufe bei besetzten Leitung oder Abwesenheit ein Ende gemacht. Für die Angerufenen versprach er Seelenfrieden, weil sie sich darauf verlassen konnten, nun keinen Anruf mehr zu verpassen; sie wurden mit dem Anrufbeantworter ständig erreichbar. Endlich konnte sich jeder eine persönliche, wenn auch sehr einfache automatisierte Assistenz leisten.
Der Anrufbeantworter sollte eine win-win Technologie sein.
Doch das Gegenteil ist eingetreten.
Zumindest im Geschäftsleben ist der Anrufbeantworter ein Fluch. Ich will nicht abstreiten, dass er hier und da nützlich ist; doch diese Nützlichkeit scheint mir in keinem Verhältnis mehr zum Schaden zu stehen, den er erzeugt. Der entsteht dadurch, dass der Anrufbeantworter das Verhältnis zwischen Anrufer und Angerufenem asymmetrisch macht.
Des einen Entlastung, des anderen Belastung
Vor dem Anrufbeantworter konnten Anrufer ihr Anliegen dem Angerufenen nur vortragen, wenn sie ihn erreichten. Beide Seiten waren damit auf Augenhöhe. Eine Frage oder Aufforderung konnte nur im Rahmen einer synchronen Verhandlung übergeben werden. Wer nicht erreichbar war, musste nicht gewärtigen, ungefragt eine Aufgabe übertragen zu bekommen.1
Das änderte sich schlagartig und radikal mit dem Anrufbeantworter: Von nun an konnte jeder Anrufer jederzeit jedes Anliegen auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, ohne sich mit unmittelbarem Widerstand auseinandersetzen zu müssen.
Natürlich wäre es einerseits schöner, auf eine Frage sofort eine Antwort zu bekommen. Aber wenn der Angerufene schon nicht erreichbar ist, spart der Anrufer sich zumindest weitere Versuche, ihn zu erreichen. Er hinterlässt schlicht seine Frage und wartet geduldig auf die Antwort. Und falls das Anliegen ohnehin nicht sofort in einem Gespräch befriedigt werden kann, entsteht für ihn noch weniger Schaden.
Für Anrufer ist der Anrufbeantworter ein Geschenk des Himmels. Er verspricht ihnen sofortige Entlastung. Was auch immer sie im Sinn haben, können sie auf den Anrufbeantworter abladen. Er widerspricht nicht, er urteilt nicht; er hört schweigend, geflissentlich zu und zeichnet auf. Und das versprechen, dass seinem Betrieb durch den Angerufenen innewohnt ist: Was Anrufer auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, wird selbstverständlich bearbeitet. Die Belastung, die durch Nachrichten auf dem Anrufbeantworter für den Angerufenen entsteht, kümmert den Anrufenden nicht. Er hat sich schon längst wieder anderen Dingen zugewandt.
Der Fluch der zahllosen Inboxes
Seit der Selbstverständlichkeit der Anrufbeantworter ist die Zeit nicht stehengeblieben. Weitere Technologien sind dem Anrufbeantworter gefolgt; das Versprechen der Erreichbarkeit, um Anliegen abzuladen ist massiv ausgeweitet worden.
Email, Team Chat (z.B. Slack) und Messengers (z.B. Whatsapp) machen dasselbe Angebot wie der Anrufbeantworter: Wer damit auf Empfang geht, ist für jedes Anliegen jederzeit erreichbar — ganz ohne Einspruchsmöglichkeit. Wer einen Tag oder auch nur eine Stunde nicht aufmerksam ist, kann sich einer Flut von Anliegen gegenüber sehen, die immer schwerer zu beherrschen ist.
Der moderne Sisyphos rollt keinen Stein den Berg hoch, sondern beantwortet Nachrichten in seinen Inboxes.
Ein guter Teil der Überlastung im Office ist dieser Asymmetrie der Kommunikation über Medien geschuldet, die es Anliegeninhabern erlauben, anderen ihre Not einfach “vor die Füße zu kippen”. Jederzeit. In jeder Menge.
Anliegen werden im Monolog vorgetragen in der Gewissheit, dass die andere Seite früher oder später mindestens zuhören muss. Die Belastung ist deshalb zweifach:
Eine Nachricht in einer Inbox egal welchen Mediums enthält eine inhaltliche Aufforderung. Ob der tatsächlich so nachgekommen werden kann, wie gefordert, ist noch eine ganz andere Frage. In jedem Fall steht für den Empfänger nun ein Problem schon im Raum; er konnte es nicht vor dem Eindringen hindern.
Darüber hinaus stellt die schiere Form einer hinterlassenen Nachricht eine Aufforderung dar: Dass eine Nachricht in der Inbox ist, erfordert die Aufmerksamkeit des Empfängers. Er hat durch Einrichtung der Inbox versprochen, sich um Nachrichten zu kümmern — egal, wie viele es sein mögen. Hinterlassene Nachrichten müssen angehört bzw. gelesen werden.
Ohne Anrufbeantworter waren Aufforderungen relativ teuer. Anrufer mussten sich bemühen, den Anrufer auch wirklich zu erreichen. Zwischen ihnen bestand sozusagen Waffengleichheit.
Mit Anrufbeantworter und all den anderen Inboxes sind Aufforderungen nun sehr billig geworden. Das jedem bekannte Symptom dafür sind Spam-E-Mails von obskuren Anbietern aller möglichen Produkte. Der schon weniger bewusste Effekt ist Corporate Spam, d.h. Spam aus dem eigenen Unternehmen in Form von E-Mails mit großen Verteilern; es kostet ja nichts, auch noch diesen oder jenen anzuschreiben; besser einen mehr, als dass es hinterher Klagen gibt. Aber noch weniger bewusst ist der Effekt als “Müllkippe” für jede Form von Anliegen.
Zwar stellt eine Nachricht in einer Inbox keine Unterbrechung dar. Der Absender kann insofern ein reines Gewissen haben. “Ich wollte nicht stören. Deshalb habe ich eine Email geschrieben.” Doch das Resultat ist womöglich noch schlimmer:
Erstens muss, wie bei einer Unterbrechung, dem Anliegen Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Absender haben sich allerdings schon längst entlastet, wenn der Empfänger die Fluttore seiner Inboxes öffnet. Und wenn dann eine hinterlassene Aufforderung Lücken aufweist, kehren sich die Rollen um. Die häufige Folge: ein ausgedehntes Ping-Pong Spiel der gegenseitigen Aufforderungen in irgendeiner Inbox.
Zweitens führt die quasi kostenlose Möglichkeit, Anliegen “über den Zaun zu werfen” dazu, dass deren Zahl explodiert. Wo kein Aufwand getrieben werden muss, muss auch nicht abgewogen werden, ob der sich lohnt. Warum selbst eine Lösung finden, wenn ein Anliegen so schnell übermittelt werden kann? Nicht nur eine Empfangs-, sondern auch eine Bearbeitungsgarantie existieren ja.
Vom Schaden der Bequemlichkeit
Unterbrechungen sind sicherlich ein noch größerer Produktivitätskiller als Inboxes. Doch sie stehen für mich eindeutig auf Platz 2.
Zucker stellt eine Verlockung dar. Was ist denn auch gegen ein Stückchen Schokolade oder eine Cola einzuwenden? Nichts. Wenn der Zuckerkonsum allerdings keine Grenze kennt, wenn es damit schon beim Frühstück losgeht und erst spät am Abend mit einem Betthupferl endet, wenn Zucker zur allzeitigen Gewohnheit wird, dann droht Schaden für die Gesundheit: kurzfristig mögen die Zähne leiden, langfristig die Verdauung. Gewichtszunahme, Diabetes, Herz-/Kreislaufprobleme sind die Folge.
Genauso ist es mit Unterbrechungen und Inboxes. Die sind süß in ihrer Bequemlichkeit für den Absender wie den Empfänger. Was ist gegen ihren gelegentlichen Gebrauch einzuwenden? Nichts. Wenn die persönliche Entlastung durch ihren Gebrauch allerdings keine Grenzen kennt… dann droht beiden Seiten und damit auch dem Unternehmen Schaden.
Der Schaden für den Inbox-Inhaber, den Belasteten, liegt auf der Hand: Er versinkt in einer Flut von Aufforderungen, die ihm Zeit für das Wesentliche rauben. Insbesondere unklar hinterlassene Aufforderungen erzeugen Mehraufwand, allemal, wenn eine Klärung ebenfalls asynchron laufen muss.
Der Schaden für den Auffordernden, den Entlasteten, ist weniger offensichtlich. Gut greifbar ist er noch, wenn seine unklar hinterlassene Aufforderung die Rollen umkehrt und ihn alsbald zum Belasteten macht bei Rückfragen. Dieser Effekt ist recht unmittelbar. Weniger greifbar ist der langfristige Effekt einer “Entwöhnung” von der eigenständigen Problemlösung. Wem es leichter und leichter gemacht wird, Hilfe bei anderen zur Bewältigung von Hindernissen anzufordern, der versucht es irgendwann gar nicht mehr. “Der andere weiß eine Lösung. Ich frage mal. Das ist ganz schnell gemacht.” Warum sich noch selbst die Mühe machen? Die Kollegen sind nett; man wird schon nicht im Regen stehen gelassen. Und da jeder mal vor einem Hindernis steht, über das ihm nette Kollegen hinweg helfen können, ist jeder nett — so dass alsbald das allgemeine Niveau der Lösungskompetenz fällt.
Und so ist der Schaden für das Unternehmen
eine allgemeine Geschwindigkeitsabnahme bei der Erledigung von Aufgaben sowie
eine allgemein Verdummung der Organisation durch Abnahme der individuellen Lösungskompetenz.
Häufiger Gebrauch von Inboxes führt zu einer Regression des Unternehmens.
Die Entlastung verwehren
Das Urteil ist bitter, ich weiß. Ich spreche es so zugespitzt auch nicht gerne aus. Aber ich kann mich dieses Urteils nicht erwehren, wenn ich sehe, wie in Offices heute gearbeitet wird.
Der Zucker ist nicht schuld am Übergewicht, die Inbox nicht schuld an der Überlastung. Es ist unser Umgang mit diesen süßen Angeboten. Wir müssen uns also auf andere Umgangsformen einigen. Wie können die aussehen? Ich mache mal zwei Vorschläge: einen einfachen und einen gewöhnungsbedürftigen.
Aus dem Stand kann jeder zumindest eines tun: Den Blick in die Inboxes zeitlich begrenzen und terminieren. Jeden Morgen um 11:30 und jeden Nachmittag um 15:30 könnten die Inboxes für z.B. 20min2 durchgeschaut werden nach neuen Aufforderungen.3
Ein solcher “Rundruf” über die Inboxes verringert noch nicht das Aufforderungsaufkommen, vermeidet aber zumindest die Unterbrechung durch sie. Hinterlassene Aufforderungen, die auch noch mit Benachrichtigungen die Aufmerksamkeit stören, sind absolut zu vermeiden.4Als zweiten Schritt empfehle ich eine Reaktionsgarantie: Aufforderungen werden innerhalb von 24h bearbeitet, d.h. zumindest irgendwie beantwortet oder gar erledigt — oder andernfalls gelöscht. Ja, genau: Gelöscht!
Sobald die Überprüfung der Inboxes garantiert ist durch explizite Zeiten pro Tag, gibt es eine begrenzte Kapazität. In z.B. konzentrierten 2x20min lassen sich nur vielleicht insgesamt 40 Nachrichten über alle Inboxes hinweg bearbeiten, also sofort löschen oder beantworten und ggf. für weitere Aufmerksamkeit einplanen.
Was sollte mit den darüber hinaus gehenden Nachrichten geschehen? Sollte für die weitere Zeit pro Tag investiert werden, die der tatsächlichen Erledigung von Aufgaben verlorengeht? Davon rate ich stark ab. Genau das ist es, was in ein Gefühl von Frustration, gar Burn-out führt: Abends ist man geschafft, ohne zu wissen, ob und was man geschafft hat. Nein, damit ist niemandem gedient.
Oder sollten weitere Nachrichten auf morgen verschoben werden? Kaum. Denn morgen liegen schon wieder neue Aufforderungen in den Inboxes. Der Berg der vor sich her geschobenen Aufforderungen würde auf diese Weise nur wachsen; Antworten würden länger und länger brauchen.
Es gibt also nur eine Lösung: Aufforderungen, die heute nicht sinnvoll bearbeitet werden können, müssen gelöscht werden. Am besten sollte das physisch geschehen, d.h. durch einen Löschbefehl der Inbox. Anrufbeantworter bieten das, E-Mail Programme ebenfalls und auch Team Chat oder Messenger Apps.
Überhängende Aufforderungen sollten gelöscht werden.
Wenn das klar kommuniziert wird, passiert Folgendes: Es tritt für den Auffordernden keine sofortige Entlastung ein durch Hinterlassen einer Nachricht in einer Inbox. Er kann sich ja nicht sicher sein, dass seine Aufforderung bearbeitet wird, ja, überhaupt gehört/gesehen wird.5 Damit sinkt die Bequemlichkeit der Inbox-Nutzung drastisch. Plötzlich müssen Aufforderer wieder einen spürbaren Preis zahlen. Sie werden sich also überlegen, ob und welche Aufforderungen sie absetzen.
Indem die verlässliche Entlastung verwehrt wird, kommen beide Seite wieder mehr auf Augenhöhe.
Gibt es denn aber nicht einen Weg raus aus allen Aufforderungen? Kann das Übel mehr an der Wurzel gepackt werden oder müssen die Empfänger einfach nur “aufrüsten”?
Ja, es gibt einen Weg, der viele, wenn auch nicht alle Aufforderungen vermeiden würde: Mehr Kompetenz und bessere Absprachen.
Wo mehr fachliche Kompetenz und auch Entscheidungsbefugnis beim Einzelnen liegt, muss der einfach andere seltener um Hilfe bitten. Dazu zähle ich auch Transparenz bei allen relevanten Informationen. Wem etwas fehlt, sollte sich bei Daten selbst bedienen können, statt andere zu involvieren.
Und wo zu Beginn einer Initiative oder auch zwischendurch synchron und geplant mehr Klarheit geschaffen werden kann, gibt es anschließend seltener Anlass, noch etwas mit Unterbrechungen und asynchronen Aufforderungen in Inboxes nachzuschärfen.
Was so harmlos und gut gemeint begonnen hat mit dem Anrufbeantworter, hat also weite Kreise gezogen und zu unerwarteten, ungewollten, aber gravierenden negativen Effekten geführt. Sich gegen die zu stemmen, ist nicht leicht, ich weiß. Doch wer “Land sehen will”, kommt nicht umhin, das Übel an einer seiner Wurzeln anzupacken. Die billige Entlastung mittels Inbox-Aufforderungen ist eine davon.
Das stimmt natürlich nicht ganz. In Unternehmen gab es schon vorher einen Posteingang für Post von außen und aus dem Hause. In den konnte jederzeit ein schriftliches Anliegen eingehen. Doch das war vergleichsweise aufwändig; es passierte daher nicht so häufig.
Ob diese Checks zweimal oder dreimal am Tag nötig sind, ob sie mit 15min, 30min oder 45min eingeplant werden sollten, ist vom Arbeitsplatz abhängig. Wer jedoch meint, häufiger reinschauen zu müssen, sollte genau überlegen, ob das wirklich zur Stellenbeschreibung passt. Den Job einer Feuerwehr haben nur die wenigsten in einer Organisation.
Ein solcher Block dient nicht (!) zur Erledigung von Aufforderungen. Nur, das mit 1-2min getan ist, sollte es darin passieren. Alles andere muss eigenen eigenen Platz in der Tagesplanung finden.
Klingeltöne und Benachrichtigungsfenster sollten dringend abgeschaltet werden!
Daraus folgt leider, dass eine neue Art von Antwort nötig wird: das “Ack”, kurz für “Acknowledgement”. Manche Nachricht ist keine direkt Aufforderung — “Bitte tue dies!” —, sondern lediglich eine Information oder Benachrichtigung. Dass die tatsächlich angekommen ist und nun angemessen bearbeitet wird, verdient durchaus eine Sichtbarmachung für den Absender. In Team Chats kann dafür z.B. ein 👍 benutzt werden, bei E-Mails mag ein “Danke!” reichen.